Schockgefroren
Ecke der Stadt. Hier haben sich zahlreiche Filmproduktionen niedergelassen. Ein paar Häuser weiter, sagt der Regisseur, wird die Krimiserie »Ein Fall für zwei« produziert.
Es ist unser drittes Treffen, und er möchte mit mir über Adam G. sprechen. »Der war ja wie ein Phantom«, meint er: »Keiner wusste was Genaues, aber alle hatten etwas über ihn zu sagen.« Die Nachbarin, die unweit seines Geländes ihre Baumschule betrieb, erzählte der Zeitschrift Neue Revue : »Die Kinder hatten alle Angst vor ihm.« In der Neuen Post war zu lesen, Adam G. hätte der Polizei erklärt, er sei einsam gewesen, nur deshalb habe er mich entführt. Andere schrieben vom »langhaarigen Triebtäter«, der mich in die »Folterkiste« sperrte. Eine Zeitung wusste, dass Adam G. plante, mich mit verbundenen Augen irgendwo auszusetzen. Andere regten sich darüber auf, weil er als vermindert schuldfähig eingestuft wurde und nach der Verurteilung zu sieben Jahren Freiheitsstrafe durch die 2. Große Strafkammer des Landgerichts Wiesbaden vor den Bundesgerichtshof zog, um das Urteil anzufechten.
Dann gab es Zeitungen, die druckten Fotos ab, von denen ich kaum glauben kann, dass es sich um Adam G. handeln soll: Ohne wirren Bart und mit geschnittenen Haaren sieht er aus wie der Mann von nebenan. Das Extrablatt einer Zeitung berichtete, wie Adam G. zeit seines Lebens im Wohnwagen hauste. Einen Beruf habe er nie erlernt. Wieder eine andere Zeitung titelte, Adam G. griff sich die »falsche« Beute, und berichtete ihren Lesern von seinem »wabbelnden Fettansatz am Bauch«. In einem Magazin war eine elegante altenglische Holztruhe abgedruckt, die als mein Gefängnis bezeichnet wird. Dort lese ich auch, ich sei nie geschlagen worden, hätte aber seelische Schäden davongetragen. Und dass Adam G. mit mir Spaziergänge unternahm und vor Gericht aussagte: »Ich wollt ihn ja auch ablenken, damit er die Situation, in der er war, nicht allzu schwer empfindet.«
Es gibt Hunderte solcher Zeitungsausschnitte. Zusammen mit denen, die ich bereits kenne, komme ich zu dem Schluss, dass ganz Deutschland mein Schicksal verfolgte, aber keiner je die Wahrheit erfuhr. Der Regisseur gibt mir noch einen Zeitungsausschnitt zu lesen. Er stammt aus dem Wiesbadener Tagblatt vom 20. Januar 1988. Unter der Überschrift »Kidnapper G. wieder vor Gericht: Im ersten Prozess zu hart bestraft?« steht: »Der Gutachter, Professor Dr. Hans-Jürgen Horn, Landesnervenklinik Andernach, kam gestern zu der klaren Aussage ›vermindert schuldfähig‹. G. sei in hohem Maße unfähig, sich in andere Menschen einzufühlen, habe nicht im Mindesten geahnt, was er dem Kind antue.«
Es fällt mir nicht leicht, weiterzulesen. So einfach ist das also? Wer sich nicht einfühlen kann, darf alles tun?
»Professor Dr. Franz Petersohn, Mainz«, lese ich weiter, »hatte schon im ersten Verfahren Sascha Buzmann zu begutachten. Damals sprach er von Spätschäden, die eintreten könnten, aber nicht eintreten müssten. Ein Unglück, das noch nicht eingetreten sei, könne dem Täter nicht strafschärfend angerechnet werden.«
Ich muss den Satz zweimal lesen, um ihn zu verstehen. Auch dann fällt es mir schwer. Warum dreht sich eigentlich alles darum, Adam G. ein paar Jahre Strafe zu erlassen?
»Nicht genügend geprüft habe die Strafkammer, die im November 1986 das Urteil verkündete, ob es sich nicht um einen minderschweren Fall handele.«
Ich lasse den Ausschnitt auf den Tisch fallen. »Vielleicht sollte ich etwas dazu sagen«, rufe ich mit aufgebrachter Stimme. »Zu diesem minderschweren Fall.«
Diese ganzen Ausdrücke wirbeln mir durch den Kopf: minderschwerer Fall. Vermindert schuldfähig. Zu hohe Strafe. Spätschäden, die eintreten könnten, aber nicht eintreten müssten. Langsam reicht es mir. Ich werde wütend. Das ist ein Gefühl, dem ich mich eigentlich nicht hingebe. Aber vielleicht habe ich eines Tages keine Lust mehr, der gut gelaunte, höfliche, zuvorkommende, aufmerksame und liebenswürdige Sascha Buzmann zu sein? Der vielleicht etwas überempfindlich ist, nicht immer souverän mit Kritik umgehen kann und seine Freundinnen ungern nahe an sich ranlässt – der aber ansonsten ganz normal ist und keinerlei Spätschäden aufweist, da es sich ja nur um einen minderschweren Fall handelte. Und weil kluge Professoren sich darauf verständigten, dass dieser Entführer und Vergewaltiger vermindert schuldfähig war, konnte dieser sich bei nächster Gelegenheit wieder ein Kind greifen. Auf
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