Schockgefroren
keinen davon umgesetzt. Ich habe keine Familie gegründet. Ich habe kein eigenes Bistro.
Nur kann Nicole eines nicht wissen: Ich habe begonnen, meine Erinnerungen zu sammeln. Ich arbeite an einem Buch. Ich bin nicht länger schockgefroren. Ich taue gerade auf.
Draußen zwitschern Vögel, und ich frage mich,
ob es Frühling geworden ist. Wissen kann ich es nicht, denn es ist lange her, seit Adam G. mich das letzte Mal aus dem Wohnwagen ließ. Seit vielen Tagen ist er wieder seltsam drauf. Entweder er läuft aufgeregt brabbelnd hin und her oder hockt stundenlang auf einem Stuhl und starrt schweigend die Wand an. Sage ich »Guten Morgen«, sage ich »Gute Nacht«, sage ich »Wollen wir Fernsehen schauen, Adi?« oder »Ich hätte Lust zum Dino-Malen«, beruhigt er sich manchmal. Bin ich nett und höflich wie zu einem Nachbarn, lässt er meistens die Finger von mir. Vergisst er das aber, sage ich schnell: »Es gefällt mir, Adi.« Dann stehen die Chancen gut, dass er seine Lust an den schlimmen Dingen verliert. Das alles habe ich herausgefunden, und deshalb bin ich nett und höflich. Dabei will ich das eigentlich nicht . Eigentlich will ich jeden Tag nur weinen. Eigentlich will ich ihn jeden Tag anschreien: ICH MÖCHTE NACH HAUSE! ICH MÖCHTE NACH HAUSE! Aber ich weiß, das darf ich nicht. So spiele ich ihm etwas vor, wie ich das kenne vom Kasperletheater. Ich setze mir die Kasperle-Maske auf, die mit dem lachenden Mund, weil ich weiß, dass Adi den lachenden Mund mag. Den weinenden mag er nicht. Also habe ich den abgelegt. Den weinenden Mund gibt es nicht mehr. Ich glaube, ich bin erwachsen geworden.
Doch jetzt höre ich Vögel, und die Sehnsucht nach Mama und Papa wird so groß, dass sie mein Herz sprengt. Es tut richtig weh, mein Herz. Ich schiele verstohlen zu Adam G. hinüber. Er sitzt auf dem Stuhl, dreht mir den Rücken zu, glotzt an die Wand. Nach dem Aufwachen hat er auf mein »Guten Morgen« nicht reagiert. Er wollte auch nicht malen. Und kein Fernsehen sehen. Mir ist unglaublich langweilig, aber ich darf nicht quengeln. Quengeln ist wie ein weinender Mund, das mag er nicht. Also muss ich nett bleiben. Und höflich. Damit ich nett und höflich bleiben kann, beginne ich, die Dinge im Wohnwagen umzubenennen. Es ist ein Spiel, das ich selbst erfunden habe: Ich schaue mir alles genau an, dann gebe ich dem Ding einen neuen Namen. Einen netten Namen. Der Müll auf dem Boden zum Beispiel. Ich schaue mir den Müll an und nenne ihn Ball. Hui, da liegt aber ein großer Ball auf dem Boden! Oder der verdreckte, klapprige Schrank, auf dem die wackelige Elektroplatte steht. Den nenne ich Schiff. Und die Platte Kamin. Wow, ist das ein tolles Schiff mit seinem schiefen Kamin! Das Spiel macht Spaß. Das Spiel sorgt dafür, dass die Maske auf meinem Gesicht lacht. Manchmal lacht sie so sehr, dass Adam G. sagt: »Du bist so ein höflicher Junge. Das haben dir deine Eltern beigebracht, oder? Meine haben mir nichts beigebracht.«
Eine Zeit lang erzählt er von seinen Eltern. Es ist immer das Gleiche: nichts zu Essen gekriegt. Nie Besuch bekommen. Komische Klamotten gehabt, deshalb wurde er in der Schule gehänselt. Mit seinem Papa hat er immer nur gestritten. Einmal habe er seinen Papa mit Stricken gefesselt. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich mag nicht drüber nachdenken. Jemand, der so etwas mit seinem Papa tut, mit dem stimmt was nicht. Mit Adam G., das ist mir klar, stimmt gar nichts.
Und jetzt ist Frühling. Draußen ist Frühling, nicht hier drin. Draußen machen die Vögel einen Riesenradau, vor allem am Morgen. Adam G. kriegt das nicht mit. Er trinkt abends Schnaps und schläft sehr lange. Ich liege wach, und irgendwann fangen die Vögel an zu singen. Erst fängt einer an, dann folgen andere. Irgendwann sind alle mit dabei, es ist wie ein Konzert. Manche singen dieselbe Melodie. Andere wechseln sich ab. Ich liege im Bett und habe die Augen auf. Neben mir schnarcht Adam G. Wie immer rücke ich so weit wie möglich ab. Viel ist nicht drin bei der schmalen Pritsche. Er stinkt schrecklich, vor allem wenn er trinkt. Ich stinke auch. Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal gewaschen habe. Ich ekle mich vor mir. Früher war es mir egal, wenn ich schmutzig vom Spielen nach Hause kam, jetzt ist es anders. Jetzt ist alles anders. Der Schmutz, der auf mir ist, bleibt nicht auf der Haut. Er wächst in mich hinein. Wenn ich über die Haut am Arm streiche, bleiben überall kleine schwarze Punkte kleben. Wie Popel. Wenn ich
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