Schockgefroren
will, dass es ihr gut geht und sie sich keine Sorgen machen muss.
Sprechen vor einer Kamera ist nicht einfach. Nie fühle ich mich schärfer beobachtet als in dem Moment, wenn das Objektiv auf mich gerichtet ist. Meine Mama scheint das nicht zu stören. Es ist, als habe sie nur darauf gewartet, dass ein Regisseur ins Haus schneit und sagt: »Kamera läuft.«
»Ich habe ja nachts gearbeitet«, erzählt sie, »und bin erst morgens um fünf Uhr heimgekommen. Da hat mein Mann gesagt, der Sascha ist nicht da.«
Zu der Zeit glaubt mein Papa noch, ich sei bei Freunden. Vielleicht will er das einfach glauben. Doch meiner Mama ist klar: Das kann nicht sein. Ich bin nie bei Freunden, einfach so, ohne anzurufen, ohne dass wir es vorher vereinbaren. Ich bin auch nicht weggelaufen, obwohl das die Ermittler später tausendundeinmal fragen werden.
»Wir sind zur Polizei«, erzählt meine Mama der Kamera. »Wir haben das gemeldet, dass der Sascha weg ist. Und die haben alles aufgenommen, und dann sind wir nach Hause. Und ich habe gewusst: Der ist weg. Den hat jemand mitgenommen.«
Es tut mir weh, meine Mama und meinen Papa auf dem Sofa sitzen zu sehen. Sie sehen so zerbrechlich aus. Mama macht das jetzt alles nochmals durch. Es ist, wie Nicole es so treffend im Film ausdrücken wird: Dieser Mann hat so vieles kaputtgemacht. Zerstört in uns. Und in Sascha sowieso.
Doch darüber will Sascha ja nicht reden. Meine Mama hat das nicht vergessen: »Er hat gesagt, er will nicht darüber reden. Wir hätten gerne darüber gesprochen, das hätte auch ihn erleichtert, wenn man darüber reden kann, aber das wollte er nicht.«
Es ist seltsam, sie zu hören. Statt zu mir, sagt sie es der Kamera. Ihr geht es wie mir. Manchmal ist es dann doch einfacher, in diese Maschine reinzusprechen. Und ich weiß ja, dass es stimmt. Mama und Papa sagten zu mir, wir machen uns viele Gedanken, und ich antwortete: »Ich werde darüber reden, aber irgendwann, wenn ich es will. Wenn ich darüber reden will, können wir darüber reden.« Dabei wusste ich schon damals, dieser Zeitpunkt wird nie kommen. Ich sagte: »Eure ständigen Fragereien, geht’s dir gut, die will ich nicht. Natürlich geht’s mir gut. Ich bin zuhause. Reicht das nicht?«
Möglicherweise hätte es meiner Mama und meinem Papa auch gereicht. Anderen aber nicht. Die brachten den Mann mit den Klecksen ins Spiel. Der sich bei Papa beschweren musste, weil ich unkooperativ sei. Weil der neunjährige Junge nichts mit Tintenklecksen anfangen konnte. Und der deshalb wusste, dass meine Zukunft negativ sein wird. Kein Wunder, wollte ich danach erst recht kein Wort mehr darüber verlieren.
»Er wollte nur noch seine Ruhe, seine Freunde, die Familie, fertig«, sagt meine Mama.
Keiner fragte damals, was meine Eltern durchgemacht hatten. Keiner ahnte, dass auch sie nicht mehr konnten.
»Wir waren ja so fertig«, sagt Mama. »Wenn das weitergegangen wäre, ich hätte mich vom Balkon runtergestürzt.«
Die Ermittler sind auch keine Hilfe. Meine Mama schüttelt es noch heute, als sie sich erinnert: »Die Polizei wollte mir ständig weismachen, dass er tot ist. Aber ich habe gesagt, Sie können mir erzählen, was Sie wollen. Mein Sohn ist nicht tot!«
Und ich? Ich wollte nie, dass meine Mama sich Sorgen machen muss! Ich wollte, dass sie sich freut. Ich wollte, dass sie lacht! Deshalb war ich immer nett und fröhlich und zog meine Lachmaske auf.
Und Mama sagt zum Regisseur: »Da muss man sich doch wundern, dass der Sascha dann diese Fröhlichkeit hat, trotz allem Kummer, den er hat. Da habe ich noch zu meinem Mann gesagt, der Junge ist einmalig. Der lässt niemanden merken, dass er Sorgen hat und Kummer. Uns sowieso nicht, das will er nicht, dass wir uns noch Gedanken machen um ihn, aber ich mache mir trotzdem Gedanken, ich weiß ja, wie es ihm geht. Ich weiß es ja.«
Und mein Papa, der bis jetzt geschwiegen hat, sagt: »Ich weiß auch nicht, wie er das alles verkraftet hat.«
Adam G. springt auf,
und ich sehe, dass er einen Lumpen in der Hand hat. Was will er denn damit? Er läuft auf mich zu, und ich denke, der Lumpen, der Lumpen … Da steht er schon vor mir. Adam G. ist groß, viel größer als ich; er ist stark, viel stärker als ich; er ist gemein und hinterhältig und widerwärtig und ekelhaft, aber jetzt scheint er plötzlich zu schrumpfen.
»Nichts sagen, nichts sagen«, bettelt er.
Dann geht er zurück zur Tür. Er dreht den Schlüssel um, und im nächsten Augenblick wird sie
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