Schockstarre
umzubringen, und ein Motiv hatte er auch. Katinka unterstrich Motiv mit vielen dicken Strichen, bis das Papier nachgab und der Kuli auf der Seite darunter weitermalte.
Hartmann hat Geld verloren, überlegte Katinka. Sie schrieb Schulden auf die Seite. Mendel umzubringen brachte ihm aber keine finanziellen Vorteile. Eher, Mendel zu erpressen. Aber Erpresser sind keine Killer. Erpresser werden gekillt. Katinka war heiß und kalt zugleich. Sie war sicher, die entscheidenden Daten beisammen zu haben, sie wusste, was es zu wissen galt, sie sah nur das große Ganze nicht. Katinka blätterte in ihrer Kladde herum. Sie notierte sich immer ziemlich viel, manches unzusammenhängend, wie es gerade kam, meistens Informationen zu ihren Fällen, Adressen, Termine, ein wildes Durcheinander, das für sie Sinn machte, weil sie die Anlässe kannte, um derentwillen sie die Eintragungen gemacht hatte. Ganz vorne ins Buch hatte sie einen Satz von Albert Einstein geschrieben: Ich will Gottes Gedanken kennen. Alles andere ist Kleinkram.
Wenn sie den einen Gedanken destillieren könnte, das entscheidende Motiv für einen der Beteiligten, Mendel umzubringen, dann würden die Details wie von selbst dazustoßen, sich zu einem prächtigen, barocken Bild gruppieren. Sogar ihre Beretta hätte darauf Platz, einen Ehrenplatz vermutlich, dachte Katinka.
Sie ging die Personen durch, die sie bisher kennen gelernt hatte. Frauen, dachte sie, unerwartet viele Frauen sind da neben den Platzhirschen. Wie stand es um die Exfrau des Agenturchefs, die Sportschützin? Katinka rief sich den Tatort ins Gedächtnis. Jeder, der im Umgang mit Waffen geübt war, würde eine für einen Fernschuss geeignetere Waffe mitbringen oder näher an sein Opfer herangehen. Sie rieb sich die Schläfen. Welchen Sinn könnte es haben, Mendel zunächst anzuschießen, dann auf ihn zuzugehen und schließlich wie ein Exekutionskommando abzudrücken, aus unmittelbarer Nähe? Dazu brauchte es ein erhebliches Maß an Hartgesottenheit, grübelte Katinka. Oder große Verzweiflung, vielleicht auch Hilflosigkeit.
Sie notierte:
Hartmann – hartgesotten genug.
X – verzweifelt genug.
Auf Hartmann mochte beides zutreffen. Sie kritzelte ein wenig auf dem Papier herum, bastelte einen Dreisatz aus ihren Notizen und strich dann alles durch. Ich will Gottes Gedanken kennen.
Edith Hartmann. Katinka blies sich die Ponys aus der Stirn. Edith hat alles verloren. Nimmt Rache an Mendel. Katinka schloss die Augen, um sich die Szenerie im Hofgarten mit Edith Hartmann am Abzug vorzustellen.
Ein Auto kam von hinten, fuhr vorbei. Langsam. Katinka blinzelte. Die Straße war gestreut, aber voller rutschiger Schlieren aus Schneematsch und Salz. Hundert Meter weiter blieb das Auto stehen. Katinka sah die Bremslichter aufleuchten, Abgaswölkchen stoben aus dem Auspuff.
Sie legte eine Liste an. Zuerst schrieb sie alle Frauen auf: Edith Hartmann, Thurid Maas, Maria Mendel, Alissa Herbst. Ihr fiel auf, dass sie mit Irmela Fenering noch nicht gesprochen hatte. Dann gab es da noch Becky Gruschka, die eine Affäre mit dem Ex-Chef ihres Mannes gehabt hatte, während ihr Mann die Ex-Frau seines Ex-Chefs flachgelegt hatte. Das waren Katinka entschieden zuviele Exe, sie drehte und wendete die Namen in ihrem Kopf wie Memory-Kärtchen.
Männer, dachte sie, notieren wir doch mal die Männer: Udo Hartmann, Peter Gruschka, Edgar Fenering. Dann fiel ihr Benno Lehmann ein, und sie setzte seinen Namen dazu. Lehmann hatte auch eine Frau. Dorit Lehmann.
Der Wagen vor ihr fuhr wieder an. Ein simpler Polo älteren Datums. Sie beobachtete, wie die Rücklichter hinter der nächsten Kuppe versanken.
Becky Gruschka hatte sie in natura gesehen. Dorit Lehmann wenigstens auf einem Foto. Beide waren zu beleibt, um als Ines Pawlowicz durchzugehen. Aber Irmela Fenering käme vielleicht in Frage.
Katinka bekam Hunger. »Am Ende«, sagte sie laut zu sich selber, »ist einer der Männer hier als Henryk Pawlowicz aufgetreten, verkleidet mit Bart, Hut, Brille. Das wäre der Knaller.«
Doch Hartmann, Gruschka, Fenering, den sie gestern Morgen vor der Agentur kurz gesehen hatte, und auch Benno Lehmann kamen nicht in Frage. Ihre Staturen passten nicht. Gruschka zu groß und zu hager, Hartmann zu fett, Fenering zu stattlich und Lehmann zu kompakt. Ihr kam das Zeitungsfoto in den Sinn, das Thurid in ihrem Büro aufgehängt hatte. »Merkwürdig«, zog Katinka das Lenkrad ins Vertrauen. »Frank Mendel hätte als einziger aller Männer hier
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