Schockstarre
seinen Spuren. Es schneite noch immer, aber feiner, in Wirbeln, wie Gischt wehte das Weiß aus der schwarzen Nacht heran und setzte sich auf Haare, Gesichter, Bäume. Ihre Autos waren zur Gänze eingeschneit. Katinkas Beetle schmiegte sich wie ein Hügelgrab in die Landschaft.
Katinka stockte, als sie näher zu den Autos kam. Sie sah den aufgewühlten Schneehaufen, wo Hardo gekniet und sich an etwas zu schaffen gemacht hatte. Ein gewaltiger Ast, vom Sturm abgerissen, lag im Schnee, die Zweige um sich gebreitet wie ein Brautschleier. Birke, dachte Katinka. Eine Birke.
»Ich habe die Kollegen gerufen«, sagte Hardo. »Ich hoffe, sie schnallen sich Hermesflügelchen an, sonst sind gleich keine Spuren mehr zu sehen.«
Katinka ließ den Lichtkegel ihrer Lampe bedächtig über die Leiche gleiten. Die Frau lag mit dem Gesicht im Schnee, der Oberkörper bedeckt von dem mächtigen Birkenast. Er war beinahe so groß wie ein junger Baum. Ihr Kopf neigte in einem unmenschlichen Winkel nach links. Der Ast musste ihr das Genick gebrochen haben. Katinka hatte Mühe, die Hand ruhig zu halten. Die vielen dünnen Zweige warfen wackelige Schatten. Ich glaube das nicht, dachte Katinka. Ich glaube meinen Augen nicht mehr und mir selbst am allerwenigsten.
»Sie lebt nicht mehr«, sagte Hardo. »Kein Puls. Ist auch nicht zu erwarten. Nicht bei dieser Verletzung.«
Katinka musste die Gesichtszüge nicht sehen, um die Tote zu erkennen. Es genügten der Lodenmantel, die kleinen Füße.
»Sie ist gerade eben erst gestorben, oder? Das Geräusch, das wir gehört haben. Sie hat geschrieen. Vor Schreck. Und dann war sie auch schon tot.«
»Ja. Sie ist noch warm. Wer ist das, Katinka?«
»Edith«, murmelte sie. »Edith Hartmann. Ich habe Ihnen doch erzählt … sie ist die Frau von Udo Hartmann, dem Kollegen Mendels, derjenige, mit dem Mendel nicht gut konnte. Der Erpresser.«
»Sind Sie sicher?«
»Das habe ich Ihnen doch erzählt, wie er mich beim Einkaufen abgepasst hat …«
»Stop. Ich meine, sind Sie sicher, dass die Tote Edith Hartmann ist?«
»Natürlich. Klein, rund. Normalerweise trägt sie eine Handtasche mit sich. Die muss hier irgendwo sein.« Katinka ließ suchend den Lichtschein über die Schneefläche gleiten.
»Nicht«, sagte Hardo warnend.
»Ich verwische keine Spuren, keine Angst«, sagte Katinka müde. Der Wind drang durch ihren Pullover. Sie merkte, dass sie fror, so sehr, dass es sie schüttelte, und sie wich ein Stück von der Stelle zurück, an der Edith Hartmann ihr Leben gelassen hatte. Ein nicht besonders einfaches Leben. An der Seite eines nicht besonders einfach zu handhabenden Mannes.
Hardo schlüpfte aus seinem Anorak und legte ihn Katinka um die Schultern. Sie lehnte kurz ihre Stirn an seine Brust. Er strahlte Wärme aus wie eine Sauna.
»Gehen Sie hinein«, sagte er, »und setzen Sie Wasser auf. Es ist kurz nach sechs. Zeit, zur Arbeit zu gehen.«
»Ich bin aber nicht die Hausfrau hier«, sagte Ka-tinka.
Er packte sie bei den Schultern und hielt sie ein Stück von sich weg.
»Sie sind wirklich unmöglich. Total unmöglich.«
»Ich weiß echte Komplimente zu schätzen«, erwiderte Katinka und sah zu Edith Hartmanns Leiche hinüber. Starr lag sie im Schnee, die ehemals so temperamentvoll rudernden Hände erlahmt. Katinka erinnerte sich an Ediths funkelnde Augen.
»Sie war so ein Temperamentsbolzen«, sagte sie traurig. Ausgerechnet Edith. Komisch, dachte Katinka, sie war diejenige, die ich am sympathischsten fand von dem ganzen Haufen rund um die Agentur Fenering. Was wollte Edith Hartmann hier draußen? Wusste sie, dass ich hier war? Hat sie mich im Burghof niedergeschlagen? Warum kam sie dann erst jetzt hierher? Und wie? Hardo hatte von einem Auto gesprochen. Er hat ein Auto gehört. Hat Hartmann seine Frau hergebracht?
Katinka biss die Zähne zusammen. Es war so eine Sache mit den Mordopfern. Im vergangenen Sommer hatte sie eine gute Freundin tot aufgefunden. Das war ihr als das Schlimmste vorgekommen, was sie jemals erlebt hatte. Und dann Mendel. Den sie tot im unbarmherzig gleißenden Licht des Seziersaales gesehen hatte. Mendel, den sie lebend nicht gekannt hatte. Eine nachträgliche Begegnung, mit der sie gut zurechtgekommen war. Weil sie ihn in dem Augenblick nur als einen Spurenträger in einem Kriminalfall verstand. Nun kamen ihr die Tränen, als sie feststellte, dass es keine Skala gab, auf der man schlimme Tode und nicht so schlimme Tode ansiedeln konnte. Es passte keine Messlatte.
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