Schockstarre
Sie waren alle schlimm, nur bemerkte man es nicht immer sofort.
»Das war ein Unfall, oder?«, sagte sie zu Hardo.
»Ich vermute es. Ich weiß nur nicht, was sie hier wollte. Aber das wird herauszufinden sein.«
Katinka saß auf dem Sofa, in eine Decke gekuschelt, und tippte die Kurzwahl für Toms Handy. Es dauerte fünf lange Klingeltöne, bis die Mailbox sich meldete. Gerade, als sie eine Nachricht hinterlassen wollte, piepte ihr Telefon. Akku leer. Bitte aufladen.
»Hardo? Darf ich Ihr Handy benutzen? Bitte. Nur ein kurzer Anruf.«
»Natürlich. Gern.«
Er öffnete den Fensterladen und spähte hinaus. Legte dann Holz nach, während Katinkas fliegenden Finger die Nummer tippten. Wieder die Mailbox. Sie bat Tom, sofort zurückzurufen, und gab Hardos Nummer an.
»Danke«, sagte sie und legte das Handy weg. Auf dem Sofa lag noch sein Buch, aufgeschlagen mit den Seiten nach unten. Dostojewskij. Der Spieler . Katinka nahm das Buch in die Hand und blätterte. Er warf ihr einen Blick zu.
Sie suchte ihre Kontaktlinsendöschen heraus und setzte mit zwei geschickten Bewegungen die Linsen ein.
»Das geht ja flott«, sagte Hardo lächelnd.
»Die berühmte Übung, die den Meister macht.« Sie blinzelte.
Das Teewasser sprudelte. Er goss es in die Kanne, die langgezogenen Pulloverärmel als Topflappen benutzend. Katinka sehnte sich nach einem starken Kaffee, noch mehr als nach Sonne, als nach dem Ende des Winters. Dennoch befeuerte der dampfende Tee ihre Lebensgeister. Die Übelkeit war abgeebbt und die Kopfschmerzen kamen ihr erträglich vor, nachdem sie noch zwei Tabletten geschluckt hatte. Die schwebenden Vierecke waren verschwunden.
Sie hörten Wagen heranfahren. Keine Sirenen, das würde nur die Schaulustigen aus dem Dorf anziehen. Hardo zog seinen Anorak über und trat hinaus. Es war kurz vor sieben, dunkel wie im Keller. Die Polizisten brachten Scheinwerfer mit. Sie sah, wie einige der Beamten den Tatort absperrten. Die Plastikbänder knatterten im Wind. Fotos wurden gemacht.
Zwanzig Minuten später erschien Hauptkommissar Wolf Schilling. Er sah derangiert aus, als er aus seinem Peugeot stieg. Katinka wartete vor der Tür. Sie hatte sie zugezogen, damit die Wärme nicht entwich, und beobachtete das Szenario. High Noon, dachte sie. Gleich ziehen sie ihre Colts und duellieren sich.
Hardo streckte die Hand aus und begrüßte seinen Kollegen. Schilling ergriff sie kurz und sah dann argwöhnisch zu Katinka hinüber. Sie stapfte den beiden entgegen.
»Morgen.«
»Frau Palfy!«
Er bemühte sich, seiner Stimme einen amüsierten Unterton zu geben, aber es gelang ihm schlecht. Er war wütend.
»Sie hatten mir zur Auflage gemacht, nach Hause zu fahren. Leider blieb ich im Schnee stecken. Gilt das als Entschuldigung?«
Aus den Augenwinkeln sah sie Hardo grinsen.
»Ich brauche eine Erklärung«, knurrte Schilling. »Von Ihnen beiden.«
Hardo räusperte sich.
»Gehen wir ins Haus. Dort redet es sich etwas leichter als in der Kälte.«
»Von wegen Haus«, murrte Schilling. Er folgte Hardo und Katinka in die Hütte.
Die folgenden zwei Stunden mussten Katinka und Hardo getrennt Bericht erstatten. Katinka wurde von einem Ermittler in einen Zivilwagen gebeten. Sie erzählte von ihrem Treffen mit Irmela Fenering, dann von den Ereignissen der Nacht. Sie vermutete, dass Hardo gerade das Gleiche zu Protokoll gab. Der Sturm ließ ein paar Grade nach, aber der Wind rüttelte immer noch an allem, was nicht niet- und nagelfest verankert war. Auch das Fahrzeug, in dem sie saßen, wurde von den Böen durchgeschüttelt. Aber wenigstens war der Wagen geheizt, und Katinkas Interviewer bot ihr Kaffee aus einer turmhohen Thermoskanne an. Er betätigte eine Pumpvorrichtung, Kaffee spritzte in kurzen Schüben in die Tasse. Wie beim Melken, dachte Katinka.
Der Ermittler reichte ihr eine bis zum Rand volle Tasse und strich sein halblanges Haar hinters Ohr, wo es sofort wieder hervorquoll.
»O.k. Übrigens, ich heiße Matthias Großkopf.«
»Angenehm.«
»Milch ist schon drin, ich hoffe, das stört Sie nicht«, sagte er.
»Im Gegenteil, ich trinke den Kaffee immer mit Milch.«
Katinka seufzte auf und dachte bei sich, wie leicht Menschen zum Reden gebracht werden könnten, würde man nur ihre momentan drängendsten Sehnsüchte kennen. Der Kaffee breitete sich in ihrem Magen aus, lockte die Lebensgeister, schon bevor das Koffein in ihrem Gehirn angekommen sein konnte. Sie atmete tief ein und aus. Beobachtete, wie der Himmel hell
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