Schockwelle
glaube, ich höre nicht recht. Du als studierte Zoologin glaubst an Seeschlangen?«
»Zunächst mal ist der Begriff Seeschlange völlig irreführend.
Um Schlangen im herkömmlichen Sinn handelt es sich nämlich nicht.«
»Es gibt ja jede Menge wilder Geschichten von Touristen, die in allerhand Seen, vom Loch Ness bis zum Champlainsee, irgendwelche komischen Ungeheuer gesehen haben wollen.
Aber im Meer hat man meines Wissens in den letzten hundert Jahren keins mehr gesichtet.«
»Das liegt nur daran, daß die Öffentlichkeit sich nicht mehr dafür interessiert. Kriege, Naturkatastrophen und die alltägliche Gewalt haben sie aus den Schlagzeilen verdrängt.«
»Aber doch nicht in der Boulevardpresse.«
»Heutzutage verkehren Schiffe doch auf ziemlich genau festgelegten Routen«, erklärte Maeve geduldig. »Die alten Segelschiffe haben auch abgelegene Gewässer befahren. Die Besatzungen von Walfangschiffen, die vor allem hinter ihrer Beute her waren und denen es nicht darum ging, auf schnellstem Weg von einem Hafen zum anderen zu segeln, haben häufig von seltsamen Meereswesen berichtet. Außerdem fuhren Segelschiffe lautlos, so daß sie Seeschlangen an der Wasseroberfläche überraschen konnten. Moderne Dieselmotoren hingegen kann man unter Wasser kilometerweit hören. Man sollte sich durch die Größe dieser Lebewesen nicht täuschen lassen. Deswegen sind sie nicht minder scheu und schreckhaft.
Sie leben zurückgezogen, ziehen unermüdlich durch die Meere und wollen sich partout nicht fangen lassen.«
»Wenn es sich weder um Hirngespinste noch um Schlangen handelt, was sind sie denn dann? Überbleibsel der Dinosaurier etwa?«
»Okay, du ungläubiger Thomas«, sagte sie mit einem trotzig stolzen Unterton. »Ich schreibe meine Doktorarbeit über Kryptozoologie, über wissenschaftliche Erkenntnisse hinsichtlich sogenannter Fabelwesen also. Nur zu deiner Information: Von den Fällen einmal abgesehen, bei denen sich jemand einen Scherz erlaubt hat, bei schlechten Witterungsbedingungen irgend etwas zu sehen meinte oder einfach Gerüchte weitergab, gibt es vierhundertsiebenundsechzig nachweisliche Berichte von Begegnungen mit Seeschlangen. In meinem Computer auf der Universität habe ich sie alle erfaßt.
Ort der Begegnung, typische Eigenschaften, Färbung, Form und Größe. Mittels grafischer Darstellung kann ich sogar ihre Evolutionsgeschichte nachvollziehen. Aber um deine Frage zu beantworten: Sie stammen vermutlich, ähnlich wie die Krokodile und Alligatoren, von den Dinosauriern ab, aber ›Überbleibsel‹ sind sie auf keinen Fall. Der Plesiosaurus zum Beispiel, eine Spezies, von der viele Leute annehmen, daß sie als Seeschlange überlebt haben könnte, war nicht länger als sechzehn Meter. Viel kleiner als Basil.«
»Na schön, ich halte mein Urteil zurück, bis du mich davon überzeugt hast, daß es sie wirklich gibt.«
»Es gibt sechs Hauptarten«, trug sie vor. »In den meisten Berichten ist von einem Wesen mit einem langen Hals die Rede, das einen Höcker hat und ein Maul wie ein großer Hund.
Nummer zwei besitzt einen pferdeähnlichen Kopf, eine Mähne und tellergroße Augen. Außerdem soll dieses Wesen eine Art Ziegenbart haben.«
»Einen Ziegenbart«, wiederholte Pitt spöttisch.
»Dann gibt es zahlreiche Beschreibungen von einem schlangenähnlichen Wesen mit einem aalartigen Kopf. Ein anderes soll angeblich aussehen wie ein riesiger Seeotter. Die am häufigsten dargestellte Art besitzt mehrere Rückenflossen, einen eiförmigen Kopf und eine hundeähnliche Schnauze. Diese Seeschlange soll nach übereinstimmenden Berichten am Rücken dunkel gefärbt sein und weiß am Bauch. Manche haben Brustflossen wie Schildkröten oder Robben, andere nicht.
Manche sollen einen endlos langen Schweif besitzen, andere nur einen kurzen Stumpf. Häufig ist von einem Pelz die Rede, aber viele sollen auch ganz glatt sein. Was die Farbe angeht, sind die Aussagen widersprüchlich. Mal sollen diese Wesen braungelb sein, mal tiefschwarz. Aber fast alle Zeugen bestätigen, daß der Bauch weiß ist. Und im Gegensatz zu den Schlangen, die sich bekanntlich seitwärts fortbewegen, schwimmen diese Wesen mit senkrechten Wellenbewegungen durchs Meer. Sie ernähren sich offensichtlich von Fischen, zeigen sich nur bei ruhiger See und wurden nahezu überall gesichtet, von den polaren und südpolaren Gewässern einmal abgesehen.«
»Woher willst du wissen, daß sich dabei nicht irgend jemand hat täuschen lassen?« fragte Pitt.
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