Schön scheußlich
proteinöse Meister der Zellteilung ist auch ein Meister der Selbstzerstörung. Wenn die Zelle unter Schock steht, wenn das Bombardement von Botschaften auf ihrer Oberfläche durcheinander gerät oder wenn ihr die Nährstoffe ausgehen, beendet myc die Konfusion, indem es den Knopf für die Selbstzerstörung drückt. Es löst die dramatische Kettenreaktion der Apoptose aus, die im Dahinscheiden der Zelle endet.
Dieser Tod verläuft nicht minder dramatisch als der eines Sterns oder einer Stadt. Die Zelloberfläche wirft Blasen und Falten, die DNS im Zellinneren stürzt in sich zusammen wie ein Brückenpfeiler bei einem Erdbeben, und die zellulären Innereien ergießen sich nach außen. Binnen fünfundzwanzig Minuten ist die Zelle dahin. Die Vorstellung, dass der Zelltod auf das Innigste mit dem Zellwachstum verknüpft sein soll, scheint der Intuition zuwiderzulaufen, doch die Evolution hatte gute Gründe für diese Verbindung. Die Zellen eines gesunden Körpers müssen in der Lage sein, sich zu teilen, damit sie verlorenes Gewebe ersetzen können. Doch wenn diese Teilung auf irgendeine Form von Schwierigkeiten stößt oder mit irgendeiner Störung der biologischen Signale konfrontiert wird und die Gefahr besteht, dass es zu unkontrolliertem Wachstum kommt, ist es für die Zelle am sichersten, das Selbstmordprogramm in Gang zu setzen. Schließlich ist es so ziemlich das Gefährlichste, was einem Körper widerfahren kann, wenn eine seiner Zellen maligne wird. Ihnen kann eine Menge Gewebe absterben - Sie können Ihre Gliedmaßen verlieren, drei Viertel Ihrer Leber oder beträchtliche Teile Ihres Gehirns - , und Sie werden dennoch überleben. Jedoch eine einzige Zelle mit dem Drang nach Unsterblichkeit kann Ihr Schicksal besiegeln. Wie ließe es sich besser sicherstellen, dass die potenziell psychotische Zelle auch tatsächlich Selbstmord begeht, als durch den Einsatz desselben Proteins, das normalerweise ihre Teilung gewährleistet?
Der Renaissance auf dem myc-Sektor gingen Jahre der Stagnation bei der Analyse der Gene voraus. Erstmalig identifiziert wurde es von Wissenschaftlern, die sich mit einer Krebserkrankung im Rückenmark von Hühnchen beschäftigten, und so verdankt es seinen Namen der Tatsache, dass es Myelome bei Hühnchen (englisch: chicken) entstehen lässt. Schon bald entdeckte man bei vielen Krebserkrankungen des Menschen ebenfalls myc-Anomalien. Besonders aufregend war für die Biologen die Entdeckung aus den achtziger Jahren, dass manche menschlichen Leukämien und Lymphome durch Chromosomenunfälle - so genannte Translokationen - zustande kamen.
An einem gewissen Punkt im Frühstadium maligner Entartung tauscht das Chromosom, auf dem myc liegt, Teile von sich selbst mit einem anderen Chromosom, und das mycGen wird aus seiner korrekten Position an eine Stelle verschoben, an die es nicht gehört. Diese Umstellung befreit das myc-Gen von den konventionellen chromosomalen Signalen, die es normalerweise in Schach halten, und setzt es unter den Einfluss anderer, stärkerer Genschalter wie denen, die für die unerschöpfliche Flut von Antikörpern im Organismus sorgen. An diese neue Position verpflanzt und auf Dauer in aktivem Zustand gehalten, kann das myc-Gen hinfort sein Protein nonstop produzieren, ein Missgriff, der in malignem Wachstum gipfelt.
Bei anderen Tumoren stellte sich heraus, dass sie die Folge einer Amplifikation des myc-Gens waren. In den Tumorzellen drängten sich Dutzende oder gar Hunderte überzähliger Genkopien, und auch dies führt zur Überproduktion von myc-Protein und damit zu unbotmäßigem Wachstum.
Ende der achtziger Jahre kam die myc-Forschung jedoch zum Stillstand. Es war zwar klar, dass das Protein unglaublich wichtig war, aber es erwies sich als dermaßen schwer zu isolieren, dass niemand herausfinden konnte, was es eigentlich genau tat und warum es zur Entstehung von Tumoren beitrug, sobald es im Überschuss produziert wurde. Dieser Zustand der Mutlosigkeit hatte im Jahr 1990 schlagartig ein Ende, als deutlich wurde, dass das myc-Protein verschiedene charakteristische Domänen besaß, unter anderem eine, die man als Leukin-Zipper (zipper ist das englische Wort für Reißverschluss) bezeichnete. Das Zipper-Motiv war schon bei anderen Proteinen beobachtet worden, und zwar bei solchen, die einen Proteinpartner benötigten, bevor sie in der Zelle ans Werk gehen konnten. Teile dieser Proteine ragen heraus wie die Zähne eines Reißverschlusses, und diese Anordnung sorgt dafür,
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