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Schön scheußlich

Schön scheußlich

Titel: Schön scheußlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalie Angier
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einlässt, was leicht geschehen könnte, wenn man sie unbeaufsichtigt gewähren ließe.
    Die Aufgabe der Chaperone ist jedoch nicht beendet, wenn die ursprünglich angestrebte Faltung erledigt ist. Sollte die Zelle durch extreme Hitze, durch eine Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr oder durch irgend eine Art von Verletzung, die die strukturelle Integrität der vielen tausend Proteine in ihrem Inneren bedroht, einen Schock erleiden, strengen sich die Chaperone an, den Zerfall von Proteinen zu verhindern: Sie heften sich an sieche Moleküle und helfen, sie wieder in Form zu bringen. Diese Faltungsmoleküle sind für Wachstum und Überleben derart unentbehrlich, dass Zellen, denen man ihre Chaperone künstlich nimmt, rasch sterben.
    Die Informationen, die die Wissenschaftler über Chaperone zusammentragen, könnten auch dazu beitragen, das Wissen über einige unserer schlimmsten Heimsuchungen' zu mehren. Nach einem Herzinfarkt sind beispielsweise große Bereiche des Herzmuskels mit Blut und Nährstoffen unterversorgt und sterben in Folge des vorübergehenden Sauerstoffmangels ab. Wenn sich die Chaperone im Herzmuskel unmittelbar nach dem Infarkt entsprechend beeinflussen ließen, könnten diese heilenden Moleküle die zerfallenden Proteine in den Herzzellen festigen und den Gewebetod womöglich verhindern. Bestimmte genetisch bedingte Erkrankungen wie die verschiedenen Formen von Muskelschwund entstehen womöglich aus Mutationen in den zellulären Chaperonen, die, solchermaßen geschwächt, zu viele Proteine nicht mehr ordnungsgemäß falten können. Theoretisch müsste ein besseres Verständnis der Chaperone auch die Entwicklung von Medikamenten erleichtern. Viele der Medikamente, die derzeit zum Einsatz kommen oder erprobt werden, basieren auf natürlich vorkommenden Proteinen. Wenn die pharmazeutische Industrie herausfinden könnte, warum eine spezielle Aminosäure ein Protein dazu veranlasst, sich in die eine Richtung zu falten statt in die andere, oder warum ein Protein in einer bestimmten Form besser funktioniert als in einer anderen, könnte sie die einzelnen Bestandteile womöglich mischen und einander anpassen, um das Angebot der Natur künstlich zu verbessern.
    Bevor uns jedoch leichtfertiger Enthusiasmus davonträgt, sollten wir im Kopf behalten, dass Chaperone nur ein Teil des Proteinfaltungsgeheimnisses sind. Über die schrecklich komplizierte Dynamik der Struktur von Proteinen bleibt noch eine Menge zu lernen. Die Information, die nötig ist, um letzten Endes das Arbeitsprofil eines Proteins zu verstehen, steht in der Sequenz seiner Aminosäuren festgeschrieben, und das elektrochemische Hin und Her der einzelnen Bausteine ist Wissenschaftlern noch immer in großen Teilen ein Rätsel. Chaperone legen nicht fest, wie ein Protein zu falten ist, sondern helfen dem Protein lediglich, seine Ambitionen zu verwirklichen. Sie hindern es daran, sich mit schlechter Gesellschaft einzulassen und sich mit den falschen Molekülen zu verbinden. Mit anderen Worten: Sie sind die Aufseher. Sie sorgen dafür, dass die Arbeit richtig gemacht wird, aber sie sind nicht diejenigen, die darüber entscheiden, wie das fertige Produkt auszusehen hat. Das steht in der Aminosäuresequenz eines Proteins geschrieben und harrt noch seiner Entzifferung.
    Dennoch ist die Entdeckung der Chaperone ein Lichtblick auf einem anderweitig recht entmutigenden Gebiet. Wenn es gelingt, die Wechselwirkungen zwischen einem sich faltenden Protein und seinen emsigen Helfern aufzudecken, werden sich vielleicht die vielen Zwischenschritte auf dem Weg von einem lockeren Polypeptidstrang zu einem tatkräftigen Protein ausfindig machen lassen.
    Dass Wissenschaftler die Rolle der Chaperone so lange vernachlässigt haben, liegt darin begründet, dass sie ihre Untersuchungen zur Faltung von Proteinen in vitro durchgeführt haben, das heißt, sie gaben isolierte Proteinuntereinheiten und ein paar andere Zutaten zusammen und warteten, was dabei herauskam. Und die Biochemiker stellten fest, dass sich so ziemlich jedes Polypeptid, das sie ins Reagenzglas steckten, unter den richtigen Bedingungen zu seiner aktiven Form faltete, indem sich die verschiedenen Aminosäuren der Kette je nach ihren speziellen molekularen Eigenschaften in die eine oder andere Richtung kehrten. Diese Beobachtung verführte die Forscher zu der Vermutung, dass die Proteinfaltung auch innerhalb der Zelle spontan ablaufen müsse. Um der Dynamik des Faltungsprozesses auf den Grund zu gehen,

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