Schön scheußlich
Struktur und Evolution von Histonen hatten deren Fürsprecher noch lange große Schwierigkeiten, sich Gehör für ihre felsenfeste Überzeugung zu verschaffen, derzufolge diese Proteine mehr sind als träge Moleküle mit dem - wie einer sich ausdrückte - unwiderstehlichen Charme eines Stuhlbeins. Erst mit der Einführung verschiedener neuer Methoden haben die Forscher zu sehen begonnen, wann, wie und unter welchen Umständen die Histone die Gene kontrollieren, die sich so anmutig um sie herumwinden. Einen Durchbruch bildete die elegante Manipulation von Hefezellen, in denen sich die Histonproduktion nach Belieben regulieren lässt. Mit einem anderen Taschenspielertrick haben Wissenschaftler es fertig gebracht, sämtliche der miteinander in Wechselwirkung stehenden Elemente der Nukleosomenperlen und ihrer Verbindungsketten im Reagenzglas zum Leben zu erwecken. Im Prinzip heißt das, die Verhältnisse im lebenden Zellkern unter wohl definierten Laborbedingungen nachzuempfinden.
Durch diese Fortschritte ist klar geworden, dass die verschiedenen Histonregionen die DNS auf eine Weise aus der Reserve zu locken vermögen, die weit subtiler ist als alles, was man bis dahin für möglich gehalten hatte. Bei einer Studie an Hefezellen stellte sich heraus, dass die Zellen nur noch mit Mühe und Not überlebten, wenn man in ihnen ein winzig kleines Element am Anfang eines der Histone zerstörte: Geriet die Histonproduktion aus dem Ruder, konnten verschiedene Gene, die zur Metabolisierung der pilzlichen Zuckermahlzeit vonnöten waren, nicht mehr eingeschaltet werden. Wenn jedoch das andere Ende desselben Histonproteins verändert wird, können die Zellen gewisse essenzielle Gene nicht mehr abschalten. Solche vergleichenden Studien lieferten die ersten eindeutigen Beweise für die subtilen und vielseitigen Talente der Histone im Hinblick auf das Dirigieren von Genverhalten. Das eine Ende des Proteins fungiert als Streichholz, mit dem sich die Gene entzünden lassen, das andere als Kerzenlöscher, der die Flamme erstickt.
Mit verschiedenen Untersuchungen im Reagenzglas haben Wissenschaftler zeigen können, dass Histone mit anderen Proteinen aggressiv um das Privileg wetteifern, sich an die DNS heften zu dürfen, und zwar mit den bereits erwähnten Transkriptionsfaktoren. Die Ergebnisse solcher Konkurrenzkämpfe fallen je nach untersuchter Gensequenz höchst unterschiedlich aus.
In manchen Fällen sind die Histone offenbar relativ locker an das DNS-Molekül gebunden und räumen ihre Position bereitwillig, sobald die richtigen Transkriptionsfaktoren aufkreuzen. Transkriptionsfaktoren sind Proteine, die speziell dafür konstruiert sind, ein Gen, das andernfalls träge herumlungern und nichts tun würde, in Schwung zu bringen. In anderen Fällen hingegen scheinen die Histone in ihrer jeweiligen Position auf der Doppelhelix wesentlich fester verwurzelt zu sein. Die konkurrierenden Transkriptionsfaktoren aber sind offenbar strikt darauf ausgelegt, die Histone beiseite zu schieben, woraufhin das mit diesen assoziierte Gen seinem vorlauten Wesen nachgeben und auf der Stelle aktiv werden kann. Beide, das Histon und sein Konkurrent, haben gleichzeitig an der DNS festgemacht, und genau das aktiviert offenbar das Gen - aber eben nur gemäßigt oder schubweise.
Es überrascht nicht, dass die Evolution Histone verwendet, um ein breites Spektrum an Aufgaben abzudecken - wobei manche sicher nicht in der ursprünglichen Arbeitsbeschreibung enthalten gewesen waren. Histone begannen ihren Dienst vermutlich vor etwa einer Milliarde Jahren als eine Art Paketschnur, mit der die ordentliche Aufreihung der Chromosomen im Kern gewährleistet werden sollte; aber als Dirigenten der Gen-Aktivität haben sie sich seither weit mehr illustre Verantwortlichkeiten angeeignet.
Wer höher steigt, fällt tiefer. Es gibt gute Hinweise darauf, dass die Zerstörung der Nukleosomenstruktur in unseren Zellen verheerende Folgen haben kann. Ein dramatisches Beispiel in diesem Zusammenhang ist eine Gruppe von anämischen Erkrankungen, die vor allem im Mittelmeerraum häufiger vorkommen. Die meisten Arten von Thalassämie resultieren aus Mutationen in Genen, aus deren Produkten die Blutzellen den roten Blutfarbstoff Hämoglobin herstellen. Eine Version dieser Krankheit aber entsteht durch einen Fehler, der nicht im Hämoglobin selbst zu suchen ist, sondern darin, dass das Chromosom, auf dem die Hämoglobin-Gene lokalisiert sind, die Fähigkeit verloren hat, sich so zu
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