Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schön scheußlich

Schön scheußlich

Titel: Schön scheußlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalie Angier
Vom Netzwerk:
Zellen enthalten, wie sich gezeigt hat, ein Enzym namens Telomerase; es ist der Erbauer jener Telomerspitzen. Normalerweise schweigt die Telomerase in erwachsenen Zellen. In den unsterblich gewordenen Zellen hat sie jedoch einen Weg gefunden, wieder aktiv zu werden und mit dem erneuten Aufbau von Telomeren zu beginnen eine Fähigkeit, die einen Krebspatienten das Leben kosten kann. Wenn die Telomerlänge das Chronometer darstellt, das der Zelle mitteilt, wann sie still und leise zu gehen hat, dann gibt es, wenn seine Länge von einer Teilung zur nächsten nicht mehr abnimmt, womöglich überhaupt kein internes Signal mehr, das die Zelle daran hindern kann, den gesamten Körper zu überwuchern.
    Der neueste Stand des Wissens über die Telomerase lässt eine Möglichkeit greifbar erscheinen, wie Krebs im fortgeschrittenen Stadium aufgehalten werden könnte: Wenn ein Präparat in der Lage wäre, die Aktivität des Enzyms zu beeinflussen, könnten die unsterblichen Krebszellen zerstört werden, ohne dass dabei den meisten anderen Zellen Schaden zugefügt wird. Biologen haben bereits eine breite Palette an gesunden Gewebearten untersucht und dabei nur in Spermienzellen Hinweise auf eine Telomerase-Aktivität gefunden. Dort hält das Enzym die Chromosomenspitzen auf der Länge höchstmöglicher Jugendlichkeit. Ein Angriff auf die Telomerase hätte damit unter Umständen keine schlimmeren Auswirkungen als die Einschränkung der Spermienproduktion. Vielleicht ist es nicht einmal so schwierig, einen solchen Blocker zu entwerfen: Die Telomerase ähnelt in chemischer Hinsicht der reversen Transkriptase, einem Enzym, das sich unter anderem auch in dem Virus findet, das für die Entstehung von Aids verantwortlich ist. Es gibt bereits mehrere Medikamente, die die reverse Transkriptase beeinflussen, unter anderem AZT und ddI, und derzeit untersucht man, ob diese Verbindungen nicht unter Umständen auch die Telomerase blockieren könnten.
    Was immer die praktischen Anwendungen sein mögen, in ihrer geschwätzigen, redundanten Sprache haben Telomere etwas Wichtiges zum fundamentaleren Thema chromosomalen Designs zu sagen - dazu, wie Gene in der Zelle gepackt sind und warum ihre Position so ist, wie sie ist. Die Wissenschaft weiß so gut wie nichts über die übergreifende Organisation von Genen, und die Telomere liefern ein paar viel versprechende Hinweise. So veranlassen sie beispielsweise die ihnen nächstgelegenen Gene dazu, sich mit ungewöhnlicher Häufigkeit zu rekombinieren, das heißt, sich im Verlauf der Entstehung von Ei-und Spermienzellen auszutauschen, zu vermischen und neu zusammenzufügen. Eine derart hohe Rekombinationsrate ist überaus wünschenswert für Gene, die - wie beispielsweise die Zellen des Immunsystems - einer hohen Variabilität bedürfen. Für Gene hingegen, die eine große Stabilität erfordern - beispielsweise jene, die die ganze fade Hausarbeit im Zellinneren leisten müssen - , wäre sie weniger willkommen. Somit sind es die Gene rund um die Telomere, die man für die unsteten hält, für unsere mutationsfreudigsten Gene, deren Evolution sogar gegenüber dem Rest des Genoms vielleicht leicht beschleunigt sein könnte. In gewissem Sinn gibt uns die Nachbarschaft des Telomers Auskunft über unsere evolutionäre Zukunft, wenn auch das Lesen in diesem speziellen Kaffeesatz unsere derzeitigen Fähigkeiten vielleicht übersteigen mag.
    Das Zeitalter des Telomers begann in den frühen siebziger Jahren. Damals beobachtete eine der ganz Großen der modernen Genetik, Dr. Barbara McClintock vom Cold Spring Harbor Laboratory, im Verlauf ihrer Untersuchungen an Mais, dass Chromosomen mit Brüchen sich als ungemein instabil erwiesen, in immer kleinere Stücke zerfielen und schließlich gänzlich in sich zusammensackten. Sie äußerte die Vermutung, dass normale Chromosomen mit einer schützenden Struktur versehen sein müssten, die ihre Schwächung verhindert. Eben diese Strukturen sind, wie sich später herausstellte, die Telomere: Andere machten sich an die detaillierte Untersuchung dieser chromosomalen Schutzhüllen. Objekt ihrer Studien waren einzellige, den Pantoffeltierchen ähnliche Organismen, die im Tümpelwasser ihre Kreise ziehen. Diese Wesen haben einen hervorstechenden experimentellen Vorteil. Während jede unserer Zellen über nur sechsundvierzig Chromosomen verfügt, die an ihren Enden jeweils ein Telomer tragen, enthalten diese winzigen Teichbewohner Tausende winziger Chromosomen, und jedes davon

Weitere Kostenlose Bücher