Schön scheußlich
bediente man sich kompliziertester Mathematik, man bemühte physikalische Prinzipien, Computergrafiken und ausgefeilte Techniken der Röntgenkristallographie, aber der Erfolg blieb mäßig.
Mitte der achtziger Jahre entdeckten Wissenschaftler, die an lebenden Zellen und nicht an isolierten Molekülen arbeiteten, dass verschiedene Proteine schlagartig in Aktion traten, sobald man eine Zelle extrem hohen Temperaturen aussetzte. Diese Sanitäter, denen man den Namen Hitzeschockproteine gab, halfen der Zelle, wie man feststellte, in entscheidender Weise, sich gegen die Auswirkungen der Hitze zu schützen, indem sie alle Proteine stabilisierten, die sich anderweitig auflösen würden.
Nachdem die Biologen eine Menge Verwandte der ursprünglichen Rettungsproteine aufgetan hatten, stellten sie fest, dass diese sich in mindestens zwei Protein-Überfamilien unterteilen ließen und quer durch die evolutionäre Landschaft in allen möglichen Kreaturen vom Bakterium bis hin zum Menschen vorkamen. Ein großer Fortschritt war es, als man eben diese Hitzeschockproteine in normalen Zellen vorfand, die man nicht im Laborofen misshandelt hatte, und man schloss daraus, dass diese Stressproteine am täglichen Leben der Zelle beteiligt waren und nicht nur als Notfallambulanz fungierten.
Dann entdeckten Genetiker, dass Hefezellen, in denen die Hitzeschockproteine mutiert waren, sich in einem schrecklichen Zustand befanden - von Kopf bis Fuß, vom Zellkern bis in den letzten Winkel ihrer elastischen Membran waren sie ein einziges Chaos. Die Proteine in diesen Zellen waren nicht ordnungsgemäß gefaltet, und dieser Defekt führte zu größtem Desaster. Die Biologen erkannten, dass sie auf einen unerwarteten Glücksfall gestoßen waren: eine ganze Klasse von Proteinen, die Licht in das Dunkel des Proteinfaltungsproblems bringen konnte. An diesem Punkt taufte man diese Proteine in Chaperone um - bestrebt, damit ihren eher allgemein orientierten Aufgaben besser Rechnung zu tragen. Manche von ihnen tragen allerdings noch immer Namen wie Stressproteine, GroEL oder was dergleichen beschwörende Bezeichnungen mehr sind.
Die meisten der bisher durchgeführten Experimente an Chaperonen hatten entweder Hefe-oder Bakterienzellen zum Ziel, da diese sich leicht manipulieren lassen, oder isolierte Zellstrukturen wie die Mitochondrien, die Kraftwerke des Körpers, in denen es eine Menge Proteine zu produzieren und zu falten gibt, die das Kraftwerk zu beschicken helfen. Heute weiß man, dass sich, vom Standpunkt eines frisch geschlüpften Polypeptids aus betrachtet, die Bedingungen innerhalb einer lebenden Zelle dramatisch von denen unterscheiden, die es im Reagenzglas vorfindet, und dass die Chaperone als unentbehrliche Kindermädchen dienen. Eine Chaperon-Art nach der anderen betritt die Szene, um den Faltungsprozess von Anfang an helfend zu begleiten; das Ganze dauert im Durchschnitt drei bis vier Minuten. »Es hat etwas von Schneewittchen und den sieben Zwergen«, erklärt Dr. Mary-Jane Gething. »Ein Zwerg bringt den Hammer, ein zweiter den Meißel, der dritte die Schaufel und so weiter.«
Wenn ein fertiger Aminosäurestrang vom ribosomalen Fließband der Zelle herunterrollt (Ribosomen sind winzige, birnenförmige Fabriken, die Orte, an denen Proteine hergestellt werden), kommt ein kleines Chaperon namens Hsp70 herbei und nimmt bestimmte sensible Bereiche des Polypeptids unter seine Obhut. Dieses Chaperon erkennt Aminosäuresequenzen, die hydrophob, das heißt wasserfeindlich sind. Solche hydrophoben Molekülabschnitte sollen am Ende der Faltung im Inneren des Proteins verstaut liegen. Doch bis sie dahin gelangen, sind sie anfällig für Irrwege und fehlgeleitete Kontakte zu anderen Polypeptiden, und deshalb passen die Chaperone auf sie auf. Die Proteinkonzentration im Inneren einer Zelle ist ungemein hoch. Das Ganze hat die Zähflüssigkeit von Honig, und junge Proteine müssen vor der sie umgebenden dicken Brühe geschützt werden. Während der frühen Stadien der Faltung bildet das Polypeptid häufig charakteristische korkenzieherähnliche Strukturen oder miteinander verknüpfte Schlingen, manchmal' auch dünne fingerähnliche Auswüchse. Wenn der erste Faltungsschritt abgeschlossen ist, entlassen die Angehörigen der ersten Chaperonschicht das Peptid aus ihrem Griff und driften davon.
Im weiteren Verlauf der Faltung beginnen die Schlaufen und Korkenzieher, sich richtig ineinander zu drehen, und jetzt übernimmt eine andere Gruppe von
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