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Schön scheußlich

Schön scheußlich

Titel: Schön scheußlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalie Angier
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entfalten, dass es möglich wird, ihm die Synthese von Hämoglobin zu entlocken. Statt flexibel zu sein und sich nach außen zu öffnen, hat der Chromosorrienabschnitt bei diesen Patienten das Aussehen einer verfilzten Haarklette und ist viel zu dicht verknäuelt, als dass ihn irgendwelche aktivierenden Faktoren aus dem Zellinneren erreichen könnten. Die Wurzel dieses Übels ist eine fehlerhafte Histonstruktur, eine Deformation jener Proteine, die mit dem Schutz und der Aufsicht über die Gene in ihrem Umkreis betraut sind.
    Doch je eingehender sich die Wissenschaftler mit den Nuancen der Chromosomenstruktur beschäftigen, umso mehr sind sie geneigt einzugestehen, dass sie erneut Gefahr laufen, die Vorgänge im Inneren der Zelle zu sehr zu vereinfachen, wenn sie alle genetischen Probleme den Histonen in die Schuhe schieben. In dem emsig rotierenden, ruhelosen Dynamo einer lebenden Zelle reicht eine einzige Familie von Proteinen nicht aus, die Entropie in Schach zu halten.

11.
Die Anstandsdamen der Proteine
     
     
    Wenn ein neues Protein das winzige molekulare Fließband der Zelle verlässt, ist es bis dahin nichts weiter als ein schlaffer Strang aus aneinander gereihten Aminosäuren und noch lange nicht in der Lage, seinen ihm zugedachten Beruf zu ergreifen. Erst wenn es in seine richtige dreidimensionale Form gesponnen, gefältelt und gezwirbelt worden ist, erwacht ein Protein zum Leben - erst dann lädt es sich mit Sauerstoff voll, wenn es Hämoglobin heißt, zerschneidet es Zucker, wenn es das entsprechende Enzym ist, oder kittet Zellen zusammen, falls es sich bei ihm um den zähen Klebstoff Kollagen handelt.
    Bis vor kurzem verfügte die Wissenschaft nur über relativ dürftige Vorstellungen davon, wie ein einfacher Chemikalienstrang es fertig bringt, sich zu einem funktionierenden Protein mit all seinen in schönster Harmonie arrangierten Knubbeln und Furchen, Kurven und Flächen zu falten, das in der Lage ist, mit anderen Molekülen in seiner Umgebung planvoll zu interagieren. Dieses Problem ist keineswegs ein rein akademisches Denkspiel, sondern für die Biologie eine Frage von zentraler Bedeutung. Proteine erfüllen die meisten der Zehntausenden von Aufgaben, derer es bedarf, um den Körper am Leben zu erhalten, und nur ein perfekt gefaltetes Protein kann die an ihn gestellten Anforderungen erfüllen. Früher hatte man angenommen, die Proteinfaltung geschehe spontan. Ein frisch gebackenes Protein oder Polypeptid springe von selbst in seine korrekte dreidimensionale Form, einzig und allein getrieben von den abstoßenden oder anziehenden elektrischen und chemischen Kräften seiner einzelnen Aminosäuren. Doch als man versuchte, durch Berechnung dahinter zu kommen, worin diese ungeheuer komplizierten Aktionen wohl bestehen mochten, kam man bei der Lösung des Faltungsproblems nur äußerst langsam voran.
    Es war eine einigermaßen große Überraschung, als man herausfand, dass die Natur Proteine nicht sich selbst falten lässt, sondern eine ganze Proteinfamilie geschaffen hat, deren einziger Zweck darin besteht, anderen Proteinen beim Falten und Furchen zu helfen. Die Entdeckung dieser Zofen unter den Proteinen - die man folgerichtig mit dem Namen Chaperone belegte - bedeutete, dass die herkömmliche Theorie der spontanen Faltung sich auf dem Holzweg befunden hatte. Die elektrochemischen Kräfte, die den Aminosäuren einer Polypeptidsequenz innewohnen, reichen nicht aus, ein Protein in seine korrekte, tatkräftige Gestalt zu modellieren und zu kneten.
    Vielmehr wird die Proteinfaltung, wie so vieles andere im Körper auch, offenbar von einem Team bewerkstelligt. Sobald die Aminosäurekette ihre Geburtsstätte innerhalb der Zelle verlässt, muss die Faltung sofort beginnen, und zu diesem Zweck eilen Scharen von Chaperonhebammen herbei und umfassen das noch flache Polypeptid sanft an etlichen hundert Schlüsselpositionen, um es vor der feindlichen Umgebung der Zelle abzuschirmen. Die Chaperone ermöglichen es Aminosäuren, die für das Innere des aktiven Proteins bestimmt sind, sich miteinander einzuigeln. Bei denjenigen, die für das Äußere bestimmt sind, helfen sie nach, dass diese sich richtig herumdrehen und der Außenwelt zuwenden. Sie sind daran beteiligt, gewisse Abschnitte zu Korkenzieherlocken zu drehen und andere zu flach plissierten Faltblättern zu klopfen. Die Chaperone passen auch darauf auf, dass die zerbrechliche Polypeptidkette sich nicht in unbotmäßiger Weise mit anderen Babypeptiden

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