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Schön scheußlich

Schön scheußlich

Titel: Schön scheußlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalie Angier
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das Männchen sich mit seinem gefurchten Hemipenis bei dem Weibchen buchstäblich einhakt.
    Die außerordentlichen Fähigkeiten des Kriechtiers beschränken sich jedoch nicht allein auf die Liebe. Seine chemosensitiven Fertigkeiten als Jäger werden für die sensibelsten im ganzen Tierreich gehalten. Der Biss einer Viper oder Grubenotter dauert nur den Bruchteil einer Sekunde, doch in dieser kurzen Zeitspanne nimmt die Schlange die Witterung ihres Beutetiers auf, wobei es dessen chemische Signatur mit seiner gespaltenen Zunge wahrnimmt. Die Duftmoleküle werden von der Zunge an ein entsprechendes Sinnesorgan im Gaumendach - das Vomeronasalorgan oder Jacobsonsche Organ - übermittelt und graben sich über dieses in das chemische Gedächtnis ein. Das vergiftete Tier wird dann von der Schlange losgelassen, kann entkommen und stirbt irgendwann. Doch die Schlange wird es aufspüren, wo auch immer es sich versteckt. In Laborversuchen haben Wissenschaftler den Geruch eines Beutetieres, den eine Schlange bereits gewittert hatte, so weit zu verdünnen versucht, dass sie ihn nicht mehr wahrnehmen kann. Doch selbst nach Tausenden von Verdünnungen haben sie die Schlange nicht von der Spur ihrer Beute abbringen können.
    Das Gift einer Grubenotter stellt auch eine Herausforderung für Toxikologen dar, die seine Zusammensetzung gern kennen würden, um ihre Gegengifte zu optimieren. Etwa achttausend Menschen werden in den Vereinigten Staaten jährlich von Grubenottern gebissen - in der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um betrunkene junge Männer, die eine Schlange, die sie am Wegesrand finden, ärgern oder misshandeln. Professionelle Schlangenhändler und solche, die dies als ihren Freizeitsport betrachten, glauben es ihrer Männlichkeit schuldig zu sein, ein paar gelegentliche Klapperschlangenbisse auszuhalten, und machen sich daher häufig nicht die Mühe, einen Arzt aufzusuchen, was üble Folgen haben kann. Sogar ein relativ geringfügiger Schlangenbiss am Finger kann zu einer unwiderruflichen Lähmung der Hand führen. Tiefere Bisse führen zu massiven Gewebezerstörungen, inneren Blutungen, einem gefährlich niedrigen Blutdruck und schließlich zum Tod. Harry Greene, der außer einem winzigen Kratzer von einem Kupferkopf in seinen Teenagertagen bislang keinen Biss davongetragen hat, zeigt in seinem Labor Fotos von Menschen, die weit schwerer unter Schlangengift zu leiden hatten - bei denen sich Arme, Beine und Genitalien in schwärzlich nekrotisierendes, mit Blasen übersätes Fleisch verwandelten. Normalerweise beißen Schlangen nicht, wenn man sie nicht anfasst oder ernsthaft provoziert, erklärt er, aber sie sind stets mit Vorsicht und höchstem Respekt zu behandeln.
    Der Grund für die potenziell tödliche Macht des Schlangengiftes ist der Umstand, dass die Schlange mit einem einzigen Biss mehrere Dinge gleichzeitig vollbringen muss. Das Gift aus mehreren Dutzend Nervengiften, Blutgiften und abbauenden Enzymen ist nicht nur dazu da, das Beutetier in die Knie zu zwingen und zu töten, sondern es beginnt überdies, die Beute von innen her zu verdauen. Da eine Schlange über keinerlei Gliedmaßen verfügt, mit deren Hilfe sie ihre Beute zum späteren Gebrauch in ihrem Unterschlupf verstauen könnte, ist sie darauf angewiesen zu verzehren, was sie erlegt, bevor ein anderer Räuber auf der Bildfläche erscheint, um es ihr streitig zu machen. Da es ihnen an Zähnen zum Kauen fehlt, verschlingen Grubenottern ihre Mahlzeit als Ganzes, indem sie ihre Kiefer aushaken und sich über ihre Beute schieben, wobei diese das Anderthalbfache ihrer eigenen Körpergröße haben kann. Anschließend verdaut die Schlange das Tier über Tage und Wochen hinweg in ihrem Inneren. Ohne die abbauende Wirkung des injizierten Giftes würde die Beute im Bauch der Schlange verwesen.
    Grubenottern sind keineswegs die auffälligsten Schlangen Korallenschlangen sind weitaus bunter - , doch ihre tarnenden Färbungen in Gold, Braun, Malve, Schwarz und Ocker verleihen ihnen eine sehr samtige Erscheinung. Die meisten der 144 Grubenotternarten sind in Nord-und Südamerika zu Hause, doch einige Arten finden sich auch in Asien. Sie gedeihen in den schroffsten Wüsten, den feuchtesten Regenwäldern des Amazonas und den einladendsten Wiesen und Prärien. Sie leben am Boden, unter der Erde oder auf Bäumen. Manchmal sind sie kurz und dick, dann wieder lang und dünn: Im Winter halten sie Winterschlaf, allein oder zu Hunderten oder gar Tausenden in einem großen

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