SCHÖN!
schön ist, wenn er es nicht selbst gesehen hat. Das heißt aber nicht, dass wir automatisch alles Schöne schön finden. Wir finden vor allem das schön, was wir gewohnt sind, für schön zu halten. Das, was wir schon kennen. Je weniger wir kennen, desto schlechter können wir beurteilen, was schön ist und was nicht . Ein gutes Urteilsvermögen hat man nicht einfach – man muss es erwerben. Mit der Schönheit ist es wie mit dem Essen. Ob zu einer pochierten Gänseleberterrine mit Birnen, Kohlrabi und geräucherter Taubenbrust ein Bier oder ein Riesling passt, kann nur der kulinarisch Erfahrene beurteilen. Warum eine Frau keine Modelmaße braucht, um schön zu sein, kann nur der ästhetisch Gebildete begründen. Ein Kochkünstler lehrt uns zu schmecken. Bildhauer, Maler und Architekten lehren uns zu sehen. Die Genies unter ihnen »setzen uns gleichsam (ihre) Augen auf«, wie der Philosoph Arthur Schopenhauer ( 1788 – 1860 ) in seiner Metaphysik des Schönen schrieb. Schönheit, so Schopenhauer, »tritt uns leichter entgegen aus dem Kunstwerk als unmittelbar aus der Natur und aus der Wirklichkeit«, da der geniale Künstler sie mit seinem präzisen Auge »ausgesondert hat aus der Wirklichkeit, mit Auslassung aller störenden Zufälligkeiten, das Wesentliche und Charakteristische derselben also reiner darstellt als in Wirklichkeit«.
Wenn Schopenhauer recht hat, ist die bildende Kunst das beste Übungsfeld für angehende Ästhetiker. Was dem künstlerischen Auge im Laufe der Jahrtausende gefiel, ist für den heutigen Geschmackskritiker allerdings nicht immer leicht nachzuvollziehen. Den meisten von uns fällt es schwer, in der kurzbeinigen, vollbusigen, fettleibigen Skulptur der Venus von Willendorf (um 25 000 v. Chr.) eine magische Schönheit zu erkennen. Was daran liegt, dass uns in einer Zeit, in der extreme Fruchtbarkeit nicht mehr mit Übergewicht, sondern mit Hormongaben assoziiert wird, die Vorstellungswelt unserer Urahnen fremd geworden ist. Ohne eine ästhetische Gebrauchsanweisung wird es uns auch Mühe kosten, eine griechische Statue aus der archaischen Zeit schön zu finden.
Zum Beispiel die über zwei Meter hohe Jünglingsstatue (griechisch: Kouros ) von circa 540 – 530 v. Chr., die sich in der Münchner Glyptothek befindet. Der dargestellte Nackte steht mit gespannten Muskeln da, als sei er kurz davor, loszulaufen. Obwohl er aussieht wie ein Athlet, hat der junge Mann nichts von einem Profisportler. Sein linkes vorgesetztes Bein ist zu lang, sein Unterschenkel ist leicht verkrümmt, die Taille mädchenhaft. Die (mit waagrechten Linien angedeutete) Rumpfmuskulatur wirkt – verglichen mit den Waschbrettern moderner Männermodels – wie ein anatomischer Unfall. Trotz seiner Mängel strahlt der steinerne Kerl aber eine ungeheure Präsenz aus. So imposant sein riesiger Körper, so sanft sein »archaisches Lächeln« – der archetypische Ausdruck einer Urlebensfreude. Gut möglich, dass wir den Widerschein dieses Lächeln schon einmal gesehen haben. An unserem Liebsten, Partner, Bruder oder an unserem neuen Kollegen. Oder sogar an Hans-Peter, den wir regelmäßig treffen, wenn wir mit dem Hund rausgehen. Kann sein, dass wir von Hans-Peter kaum etwas wissen, außer, dass er einen Rottweiler hat und trotz seines spießigen Outfits irgendwie sympathisch wirkt. Jetzt verstehen wir, warum. Plötzlich kommt uns etwas in Hans-Peters Gesicht bekannt vor. Auf einmal erkennen wir in seinem Lächeln einen fernen Abglanz des Originals. Auf einmal können wir etwas als »schön« einordnen, das uns zuvor kaum auffiel.
Jedem von uns wird ein Schönheitssinn in die Wiege gelegt. In Experimenten der Attraktivitätsforschung sprechen Neugeborene auf die gleichen (symmetrischen) Gesichter an, die auch Erwachsene schön finden. Manche Menschen bleiben mit ihrem Schönheitsempfinden lebenslang auf Säuglingsniveau – andere bemühen sich, es zu verfeinern und weiterzuentwickeln. Wer besser sehen lernen will, sollte sich die Augen der Künstler leihen.
Abb. 6: Der Kouros aus der Münchner Glyptothek, ca. 540–530 v. Chr.
Abb. 7: Albrecht Dürer, Selbstbildnis im Pelzrock, 1500
Albrecht Dürers ( 1471 – 1528 ) »Selbstbildnis im Pelzrock« von 1500 zeigt, wie sich der Künstler selbst stilisierte: mit perfekt ebenmäßigem, wohlproportioniertem Gesicht. Der gemalte Dürer schaut dem Betrachter mit ernstem Blick frontal ins Auge. Sein Blick, sein Bart und sein Langhaar erinnern an mittelalterliche
Weitere Kostenlose Bücher