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SCHÖN!

SCHÖN!

Titel: SCHÖN! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebekka Reinhard
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verhalten sie sich so, als hätten sie: »Wer etwas für schön erklärt, will, dass jedermann dem vorliegenden Gegenstand Beifall geben und ihn gegebenenfalls für schön erklären solle.«
    Übrigens: Natürlich hätte Marcia ihre Aussage mit Gründen untermauern können, aber damit hätte sie die Wahrheit auch nicht mehr auf ihrer Seite gehabt. Gordon hätte gute Gründe für das Gegenteil anführen können, und noch immer wäre es unentscheidbar, wer recht hat. Da ästhetische Erfahrungen ganz wesentlich Sinnes- Erfahrungen sind, genügt eine rein rationale Begründung, warum etwas schön oder großartig ist, also nicht – auch wenn Gordon und Marcia beide zu Recht fordern, dass man seinen Verstand beim Beurteilen künstlerischer Leistungen sehr wohl einzuschalten habe.
    INTERESSELOSIGKEIT: Laut Kant ist das Wohlgefallen (oder Missfallen), das das Schöne in uns auslöst, »ohne alles Interesse«. Es gilt also nur der Schönheit des Objekts und nicht irgendeinem anderen Aspekt. Für Kant geht die sogenannte Interesselosigkeit Hand in Hand mit distanziertem Verhalten, das für ihn echte ästhetische Lust signalisiert. Was soll das heißen? Ein Ölgemälde kann laut Kant durchaus ein sinnlicher Genuss sein – sofern es nicht irgendwelche niederen Begierden anspricht. Wer ein Stillleben betrachtet und dabei, anstatt sich auf das durch die Schönheit der dargestellten Früchte erzeugte Wohlgefallen zu beschränken, Hunger bekommt, ist nach Meinung Kants ein Banause. Gordon agiert wie ein Kantianer, wenn er Marcia zu Beginn der Geschichte zur Distanziertheit aufruft. Marcia dagegen können wir als Kant-Gegnerin outen. Denn für sie hat das Verständnis von Kunst nichts mit Beherrschung zu tun, sondern mit Enthusiasmus.
    GENIE: Um die Größe Donald Ducks zu betonen, nennt Gordon Walt Disney ein Genie, also einen Menschen, der radikal Neues »schöpft«. Als »Schöpfer« galten seit dem 16 . Jahrhundert ausschließlich Künstler, speziell Dichter. Erst im 20 . Jahrhundert wurden die Begriffe Schöpfer, Schöpfung und Schaffen auf die Bereiche der Natur, Wissenschaft und Technik ausgeweitet. Heute werden brillante, hoch talentierte Köpfe aller Art als Genies tituliert. Jeder, der auf höchstem Niveau Bahnbrechendes leistet, gilt als Genie. Egal, ob es sich um Kleider, elektronische Geräte, Fotografien oder Comics handelt. Ein Genie ist immer einzigartig, unvergleichlich, unersetzbar, absolut. Es erschafft Werke, die weniger originellen Geistern als Vorbild dienen können. Laut Gordon ist Greta Garbo weit entfernt davon, genial zu sein. In seinen Augen ist sie bloß Massenware – eine Schauspielerin unter vielen. Sie könnte niemals absolut, höchstens relativ großartig sein, meint er. Man könnte sie mit Joan Crawford oder einer beliebigen anderen Filmdiva ersetzen, und niemandem würde es auffallen.
    Die Winship-Geschichte lehrt: Mit der Geschmacksfrage ist nicht zu spaßen. Ästhetische Urteile sind nichts Beliebiges, sondern eine Frage der Ehre, der Integrität einer Person. Das heißt: Sie fordern die gleiche Ernsthaftigkeit und Verbindlichkeit wie moralische Urteile. Wer heute die Todesstrafe ablehnt, kann sie morgen nicht plötzlich tolerieren. Wer heute Donald Duck großartig findet, von dem sollten wir erwarten können, dass er auch noch nächste Woche dieser Meinung ist. Sonst könnten wir ihn nicht ernst nehmen, sonst müssten wir vermuten, dass er nichts richtig ernst nimmt. Nicht einmal sich selbst.
    Wie man lernt, Schönheit zu beurteilen
    Womöglich wäre der Streit nicht derart eskaliert, wenn sich Gordon und Marcia die Mühe gemacht hätten, ein paar Beispiele für Garbos bzw. Donalds Größe zu nennen. Vielleicht ist Gordon an Greta Garbo bisher nur das weiß gepuderte, maskenhafte Gesicht aufgefallen. Vielleicht ist ihm gar nicht klar, dass Marcia an etwas ganz anderes denkt, wenn sie von der großartigsten Schauspielerin ihrer Generation spricht. Zum Beispiel an das rare, dafür umso geheimnisvollere Garbo- Lächeln.
    Das Gleiche gilt für die Schönheit. Wir können das, was wir selbst schön finden, anderen nur anhand von Beispielen, dem »Gängelwagen der Urteilskraft« (Kant), vermitteln. Über Schönheit zu theoretisieren, ist an sich ziemlich sinnlos. Wenn man jemandem, der mit Kunst nichts am Hut hat, den Zauber von Botticellis Venus erklärt, bringt das genauso viel, wie einen, der noch nie in der Sahara war, über den Zauber von Geröllwüsten zu belehren. Niemand kann verstehen, was

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