SCHÖN!
großartiger, als es die Garbo je sein wird …« Er lässt den Taxifahrer anhalten und steigt aus. »Du Karikatur! Du Cartoon!«, ruft sie ihm hinterher.
Gordon zieht aus. »Wenn Marcia glaubt«, sagt er zu seinem Freund, »dass diese Schwedin eine Größe ist und Donald Duck bloß eine Karikatur, kann ich einfach nicht guten Gewissens mit ihr zusammenleben. Meiner Meinung nach ist Donald Duck großartig, und der Mann, der ihn geschaffen hat, ein Genie … Während Greta Garbo einfach eine Schauspielerin unter vielen ist …«
Um es kurz zu machen: Der Streit über eine vermeintlich triviale Angelegenheit führt zur endgültigen Trennung der Ehepartner. Beide glauben, ihre Ehre und Integrität opfern zu müssen, wenn sie dem anderen, der ihre Meinung ablehnt, nachgeben würden.
Grundbegriffe der Ästhetik am Beispiel einer Schwedin und einer Ente
In dieser ganzen tragischen Geschichte taucht das Wort »schön« nicht ein einziges Mal auf. Und doch trägt sie zum Thema Schönheit Wesentliches bei. Sie zeigt nämlich, dass es leicht ist, an etwas oder jemandem Gefallen zu finden – aber sehr schwer, zu verstehen, zu beurteilen und zu begründen, warum das so ist. Philosophiegeschichtlich gesehen führt der Streit der Winships an den Beginn der Neuzeit zurück, als Philosophen wie Giordano Bruno ( 1548 – 1600 ), René Descartes ( 159 6 – 1650 ) oder Thomas Hobbes ( 1588 – 1679 ) sich von der platonischen Suche nach dem Wesen bzw. der Idee des Schönen (s. Kap. 1 und 4 ) abkehrten und damit begannen, Schönheit in der speziellen Wahrnehmung eines Menschen zu verankern. Spätestens seit dem 18 . Jahrhundert wurde Schönheit nicht mehr als Eigenschaft eines Gegenstands verstanden, sondern als Ausdruck einer subjektiven, individuellen Bewertung – die aber dennoch (und genau darin liegt das Problem!) auf Allgemeingültigkeit pocht.
Aus philosophischer Sicht ist die Auseinandersetzung der Winships bemerkenswert, weil es hier nicht um ein typisches Beziehungsproblem geht (zum Beispiel die unbewusste Weigerung des Mannes, den Müll herunterzubringen), sondern um zwei sehr einflussreiche Figuren der Populärkultur. Die Populärkultur gehört in den Umkreis der Kunst, und ein Streit über Kunst in das philosophische Gebiet der Ästhetik (von griech. aisthesis für »sinnliche Wahrnehmung«). So werden seit dem Erscheinen von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica Mitte des 18 . Jahrhunderts alle (wissenschaftlichen) Bemühungen genannt, die sich der Erforschung und Erkenntnis des Schönen und Künstlerischen widmen. Denn Schönheit findet man ja nicht nur in der Natur; sie ist ganz wesentlich auch etwas, das von Malern, Komponisten, Architekten oder Regisseuren erschaffen wird. In den Diskussionen großer Ästhetiker von Baumgarten bis Kant, von Friedrich Nietzsche ( 1844 – 1900 ) bis Theodor W. Adorno ( 1903 – 1969 ) geht es typischerweise um:
LUST, GENUSS, GEFALLEN: Wenn Marcia Greta Garbo und Gordon Donald Duck großartig nennen, drücken sie jeweils aus, was ihnen gefällt. In Thurbers Geschichte verwendet zwar keiner der Protagonisten je das Wort »schön«, aber was sie als »großartig« bezeichnen, könnte genauso gut »schön« heißen. Denn die großartige Garbo/der großartige Donald verschaffen ästhetischen Genuss, sie faszinieren, sprechen die Sinne an, machen nachdenklich, heitern auf, sind lustvoll. Sie erfüllen also eine ähnliche Funktion wie, sagen wir, Brigitte Bardot in Die Verachtung . Aber nicht jedem gefällt Brigitte Bardot, so wie auch nicht jedem Donald Duck gefällt (Marcia jedenfalls nicht). Was jeweils gefällt, scheint eben eine Sache des persönlichen Geschmacks zu sein. Wenn das so ist, warum streiten die Winships dann bis aufs Blut?
GESCHMACKSKRITIK: Marcia ist begeistert von Anna Karenina, Gordon von Donald und Walt Disney. Indem Gordon Disney als Genie bezeichnet und Marcia die Garbo als die großartigste Erscheinung ihrer Generation, üben sie Ge schmackskritik: Sie fällen beide ein Urteil, ohne auch nur einen einzigen vernünftigen Grund dafür anzuführen. Trotzdem wollen sie wie selbstverständlich, dass jeder ihrer Meinung ist. Sie halten ihr jeweiliges Urteil also für verallgemeinerungsfähig. Sonst wären sie nicht so empört, dass ihr Ehepartner anders denkt. Wir wissen nicht, ob Marcia und Gordon (oder der Autor der Geschichte) folgende Passage aus Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft, einem Meilenstein ästhetischer Theorie, gelesen haben. Aber zweifellos
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