SCHÖN!
Christusdarstellungen. Aber Dürers kostbarer Pelzrock und die feinen Locken, die ihm bis über die Schulter reichen, signalisieren auch das Modebewusstsein, die Coolness und Extravaganz eines Dandys (s. Kap. 2 ) avant la lettre. Mit modischem Eigensinn pfeift Dürer auf die Kritik an der Haartracht, die der humanistische Theologe und Philosoph Erasmus von Rotterdam (ca. 1466 – 1536 ) in seinem Goldenen Büchlein von der Höflichkeit der Knaben anbrachte, und auf dessen Forderung, das Haar solle »nicht übers Vorhaupt hangen, auch nicht auf den Schultern herumfliegen«.
Wie die antike Schönheit des Kouros, so ist auch die Renaissanceschönheit nur für den sichtbar, der sie (er)kennt . Und er erkennt, weil er sich mit der Zeit und ihren Schönheitsidealen beschäftigt hat, weil er vielleicht schon häufiger Gemälde der Renaissance betrachtet und verglichen hat.
Nehmen wir unseren langhaarigen, bärtigen Nachbarn aus dem zweiten Stock. Haben wir Dürers Selbstbildnis im Hinterkopf, sticht uns nicht sein fahler Teint ins Auge, wenn er uns im Treppenhaus begegnet. Sondern seine fein gezeichneten Haarwirbel. Fasziniert von seiner Ähnlichkeit mit Dürer, kommen wir gar nicht erst auf die Idee, ihn mit einem bekifften Hippie zu vergleichen. Wir achten nicht auf die schlechte Haltung des Mannes, sondern darauf, wie sich das von draußen einfallende Licht in seinen Locken verfängt, wie perfekt das erdfarbene Haar mit dem Goldton der Sonne harmoniert. Es kann sogar sein, dass wir aufgrund unserer kunsthistorischen Vorkenntnis irgendwo zwischen dem zweiten und dem dritten Stock von ästhetischer Lust erfasst werden, von einem echten »interesselosen Wohlgefallen« (Kant).
Laut Schopenhauer ist es typisch für jede tief empfundene ästhetische Erfahrung, dass »dieser Zustand uns … allen Leiden entzieht«. Schönheit zu erfahren hat das gleiche glückliche Gefühl zur Folge wie »die Erinnerung an vergangene Zeiten und entfernte Orte«, heißt es in der Metaphysik des Schönen . Tatsache ist: Da wir in der Gegenwart meist auf irgendwelche Probleme fixiert sind, erkennen wir die positiven Seiten des Lebens leider immer erst zu spät – in der Rückschau, wenn die »Bilder jener Vergangenheit und Entfernung, die damals durch (Sorgen und Leiden) getrübt wurden, … sich jetzt rein von denselben« zeigen.
Die Vergangenheit mag ein »verlornes Paradies« sein – die Kontemplation des Schönen erlaubt es, sich auch in der Gegenwart in einen paradiesischen Zustand zu versetzen. Dazu müssen wir uns vor ein Bild bloß hinstellen »wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde«, so Schopenhauer.
Jeder Künstler erzählt von etwas anderem. Bei Dürers Selbstporträt ist von kühler Perfektion die Rede. Um etwas ganz anderes geht es bei den »Drei Grazien« (ca. 1635 ) des Barockmalers Peter Paul Rubens ( 1577 – 1640 ): Leibesfülle. Wir sehen die drei antiken Göttinnen aus dem Gefolge der Liebesgöttin Aphrodite, Töchter des Zeus. Ihre üppigen Körper symbolisieren das Sinnliche, Liebliche, Entzückende. Ihre Wangen, Ellbogen, Füße und Pobacken wirken zum Anfassen plastisch. Diese Göttinnen zeigen ihre Nacktheit völlig unverkrampft. Ihre Erotik ist natürlich, direkt und ungezwungen, ohne jede Berechnung – im Unterschied zu der Heidi Klums. Neben ihrer Üppigkeit wirkt die sonst so imposant erscheinende Heidi wie ein verhungertes Waisenkind.
Bemerkenswert an den drei Grazien ist auch ihre Schwerelosigkeit. Trotz ihrer Rundungen sind ihre Bewegungen balletteusenhaft leicht. Rubens macht klar: Beleibtheit hat nichts mit Behäbigkeit zu tun. Für ihn ist Korpulenz ein Ausdruck von Lebensfülle, nicht von schlechter Lebensführung. Ein Gedanke, den sich die moderne Frau, die Schlanksein und Schlankbleiben als Teil der Leistungsideologie verinnerlicht hat, hinter die Ohren schreiben kann. Denn letztlich ist es ihre eigene Entscheidung, wie sie ihre Rundungen beurteilen will: ob als unerträgliche Belastung oder als Kennzeichen göttlicher Erotik. Ihr Standpunkt entscheidet über ihr Wohlbefinden – und ihr kunsthistorisches Wissen. Wenn eine Frau beim Anblick ihres Körpers an Rubens’ Grazien denkt, wird sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht an Modelmaßen orientieren. Wenn sie ihre Kenntnisse über Schönheit in Museen statt bei der Lektüre von Klatschzeitungen erworben hat, wird sie mit den Weight Watchers wenig anfangen können. Sie wird bloß stolz sein, dass eine Figur wie
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