SCHÖN!
ihre kurzen Beine noch ihre Akne können ihn daran hindern, sie zu vergöttern. Sein ästhetisches Urteil kann durch nichts widerlegt werden, erst recht nicht durch wissenschaftliche Belehrungen. Sobald Erotik im Spiel ist, spielen die Kriterien der Objektivität endgültig keine Rolle mehr, und Schönheit wird zu einer Frage individueller Präferenzen. So gesehen können wir (die liebeswilligen Frauen) eigentlich auf sämtliche Verschönerungsprozeduren verzichten, uns einen Damenbart stehen lassen und nach Herzenslust unsere Besenreiser exponieren. Im Prinzip brauchen wir uns nur zurückzulehnen und an Freud zu denken: »Die ›Schönheit‹ und der ›Reiz‹ sind ursprünglich Eigenschaften des Sexualobjekts.«
Aber wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von Erotik sprechen? Denken wir uns zwei Brüder, Peter und Paul. Peter hat ziemlich genaue Vorstellungen von einer attraktiven Frau: Sie sollte volle Lippen haben, lange Locken und einen unterdurchschnittlichen Intelligenzquotienten. Wenn er eine Frau gefunden hat, die die genannten Merkmale in sich vereint, ist er begeistert – aber nicht allzu lang. Sobald ihm eine neue mit ähnlicher Ausstattung ins Auge sticht, lässt er die alte stehen. Peter ist am laufenden Band »verknallt«.
Paul dagegen liebt seit gut zehn Jahren Jean, eine Mathematikerin, die keinem der gängigen Schönheitsideale (s. Kap. 1 ) entspricht. Je länger er sie kennt, desto mehr liebt er sie, und je mehr er sie liebt, desto schöner findet er sie. Sie ist der wichtigste Mensch in seinem Leben. Paul fühlt sich überreich beschenkt. Peter nicht minder. Wo liegt der Unterschied?
Daniela Katzenberger und der Gartenzwerg
Peter ist auf den Effekt aus, den gewisse Repräsentantinnen der Damenwelt auf ihn ausüben. Paul will Inspiration – er ist darauf aus, von Jeans ureigener Schönheit angeregt, begeistert, erleuchtet zu werden. Peter peilt eine möglichst effektive Befriedigung seines Sexualtriebs an. Von seiner subjektiven Warte aus mag er ein erfülltes Liebesleben haben – objektiv betrachtet ist das Spektrum seiner erotischen Entfaltungsmöglichkeiten ziemlich begrenzt.
Sigmund Freud ( 1856 – 1939 ), der Begründer der Psychoanalyse, bemerkte in seiner Abhandlung Das Unbehagen in der Kultur ( 1930 ) trocken: »Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch schwer geschädigt, es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung befindlichen Funktion, wie unser Gebiss und unsere Kopfhaare als Organe zu sein scheinen.« Freud führt seine Diagnose auf die verheerende Wirkung zurück, die gesellschaftliche Konventionen auf das Triebleben des Einzelnen haben, allen voran das Dogma der unauflösbaren Verbindung von Mann und Frau in der »Einehe«. Seit Freud hat die ses Dogma ziemlich viel an Wirkkraft verloren – an seine Stelle ist ein anderes getreten, das ein passioniertes Liebesleben ebenso vehement verbietet: die absolute, nicht verhandelbare Priorität der Arbeit vor allen anderen Tätigkeiten. In einer Welt, die vom durchschnittlichen Arbeitnehmer ständige Verfügbarkeit und allseitige Flexibilität bei größtmöglicher Unsicherheit des Beschäftigungsverhältnisses verlangt, ist für das Ausleben authentischer Leidenschaft nicht mehr viel Platz. Woher soll ein Mensch, der auf Bildschirme glotzen muss, bis ihm die Augen tränen, auch die Zeit dafür hernehmen? Wie soll er die Kraft aufbringen, jemand anderen dauerhaft zu begehren, von ihm/ihr zu träumen, zu schwärmen? Da es bis zum nächsten Telefonat, zur nächsten Konferenz, zum nächsten Kun denbesuch nie lange hin ist, sorgt er dafür, dass seine Träume so bald wie möglich wahr werden. Er sucht sich einfach ein paar schnell verfügbare Reize zusammen, die eine sichere, reproduzierbare Wirkung auf ihn haben. »Man will das Äußere haben, das man kennt, und nichts Innerliches, das man erst erkennen muss«, schrieb der österreichische Schriftsteller Fritz Karpfen ( 1897 – 1952 ) in den 1920 er-Jahren. In Zeiten chronischen Zeitdrucks gilt dies mehr denn je.
Wer ständig im Stress ist, hat kein Ohr für Zwischentöne. Er reagiert auf das Eindeutige, nicht auf das Vielschichtige. Seit Stress ein Massenphänomen geworden ist, schafft es die Pornografie spielend, die Erotik zu verdrängen. Es gibt kaum noch jemanden, der Sexshops anrüchig findet. Schließlich werden in Sexshops Gebrauchsgegenstände verkauft, genau wie in Auto häusern. Aber anders als Autohäuser drehen Sexshops ihren Kunden Mogelpackungen an: Wo
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