SCHÖN!
Intelligenz, Verstandeskraft. Man muss kein Philosoph sein, um zu erkennen: Seele und Geist lassen sich nur schwer voneinander trennen. Schließlich ist der Mensch nicht nur dank seiner emotionalen, sondern auch seiner intellektuellen Fähigkeiten das wohl einzige Lebewesen, das sich über so unbegreifliche Dinge wie Schönheit, Liebe und Kunst das Hirn zermartert. Das einzige, das sich darum bemüht, sein Leben nicht nur zu leben, sondern zu gestalten.
Unser Wille zum schönen Leben ist unausrottbar. Aller Hindernisse zum Trotz versuchen wir, solange wir können, uns eine glückliche Existenz aufzubauen. Welche (philosophischen) Werkzeuge eignen sich hierfür am besten? → Teil III
III Geist
III
Geist
»(D)as entscheidende Kunstwerk,
um das man sich bemühen,
der entscheidende Bereich,
auf den man ästhetische Werte anwenden muss,
(ist) … das eigene Leben.«
Michel Foucault
7 Schönes Leben I:
Warum Glück Übungssache ist
Sie liebten alles Wohlproportionierte – aber für die Philosophen der griechischen Antike war das letzte Ziel des Menschen nicht körperliche Schönheit, sondern ein schönes Leben. Auch für den größten Kauz unter ihnen, Diogenes von Sinope (ca. 400 – 323 v. Chr.). Diogenes, der nie Geld hatte, aß, was ihm zwischen die Zähne kam (zum Beispiel rohe Tintenfische), schlief unter freiem Himmel in einer Tonne und pflegte zu sinnieren: »Wozu also lebt ihr, wenn ihr euch nicht darum sorgt, schön zu leben?«
Anders als der philosophisch Arglose vermuten könnte, wollte Diogenes seine Mitmenschen mit dieser Frage nicht ermutigen, es besser zu machen als er. Seine Philosophie war keine Anleitung dazu, wie man an prall gefüllte Konten kommt und seine Zeit damit vertrödelt, auf sonnigen Landwohnsitzen herumzugammeln oder sich im Maybach von Party zu Party kutschieren zu lassen. Wie für alle Philosophen seiner Zeit bedeutete »schön« (kalos) für ihn nicht Bequemlichkeit und Spaß, sondern Schicklichkeit, Richtigkeit, Maß (s. Kap. 1 ). Schön zu leben hieß: seinem Leben eine Form geben; Lust und Frust an einer Ethik des rechten Maßes orientieren; den Zwist zwischen Intellekt und Emotion, Eros und Dionysos (s. Kap. 4 und 5 ) beenden. Es hieß, sich weder von den Umständen noch seinen Leidenschaften verschlingen zu lassen, sondern im rechten Moment seinen Verstand einzuschalten, vernünftig zu sein, sich in Selbstbestimmtheit und Verantwortung zu üben und nach Maßgabe seiner Möglichkeiten dafür zu sorgen, Gutes zu tun.
Genau das tat Diogenes. Anders als die meisten modernen Philosophen versteckte er sich nicht in einer Universität, schrieb keine dicken Wälzer und schwang auch keine bedeutungsschwangeren Reden – sondern provozierte seine Zeitgenossen, indem er lebte, was er lehrte: selbst gewählte Armut und Bedürfnislosigkeit als Weg zur Tugend. Der Hund (Kyon) – so sein Beiname – lief nackt und mit struppigem Bart herum, um die Reichen und Mächtigen scharf zu kritisieren und sie auf penetranteste Weise dazu aufzufordern, ihren Besitz mit den Armen zu teilen. Diogenes wählte die Existenzform des »Hundes« aber nicht nur, um in der Öffentlichkeit zu urinieren. Nicht nur, »weil ich schlechten, verlogenen Menschen die Wahrheit vorhalte und ihnen die Wahrheit über sie selber sage, und weil ich für gute Menschen mit dem Schwanz wedle und die Gesichter der Bösen anknurre«.
Diogenes wollte mehr: Er strebte nach dem Glück. In einer Tonne? Ohne Daunen, ohne Ohropax? Was wir heute unter Glück verstehen, hat mit dem altgriechischen Glücksbegriff (eudaimonia) wenig zu tun. Für uns ist Glück ein mehr oder weniger vorübergehender Zustand, ein Gefühl, eine Verfassung oder ein Zufall (z. B. das Resultat eines Lottogewinns) – in der altgriechischen Philosophie war es eine geistige Aktivität (energeia), eine aktive innere Haltung, die sich bestenfalls auf die gesamte Lebenszeit erstreckte. Sie sollte es dem Menschen ermöglichen, zwischen dem schönen, dem glücklichen und dem moralisch guten Leben einen untrennbaren Zusammenhang herzustellen.
Abb. 15: Diogenes in der Tonne (Aquatinta von Carl Russ, 1810)
Auch die Philosophie war etwas anderes als heute. Keine hoch spezialisierte akademische Disziplin, sondern eine Art zu leben. Besonders im Hellenismus ( 4 .– 1 . Jahrhundert v. Chr.) und in der römischen Kaiserzeit ( 1 . und 2 . Jahrhundert n. Chr.) galt sie als Lebenskunst (techné tou biou). Da jede philosophische Betätigung Lebenstraining war,
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