SCHÖN!
philosophische Theorien zur körperlich verankerten Kognition (»embodied cognition theories«). Danach sind Denken, Fühlen und Wahrnehmen keine Geschehnisse, die ausschließlich im Gehirn stattfinden; vielmehr beziehen sie den Körper und seine Interaktion mit der Umwelt grundsätzlich mit ein. Das heißt zum Beispiel, dass wir die Emotionen anderer deuten, indem wir mittels sogenannter Mikrobewegungen ihre Mimik imitieren. Wir übersetzen also den Ausdruck, den wir an anderen wahrnehmen (Freude, Schmerz, Angst …), unbewusst in unsere eigene Gesichtsmuskulatur. Dieser Akt der Nachahmung schickt dann ein Signal von unserem Gesicht zu unserem Gehirn, wodurch wir schließlich verstehen, was wir sehen.
Neals und Chartrands Probandinnen taten sich sehr schwer mit der Gefühlsinterpretation. Ein bis zwei Wochen, nachdem ihnen Botox zur Behandlung von Stirnfalten und Krähenfüßen injiziert worden war, zeigten sie sich (im Vergleich zur Kontrollgruppe) vielfach unfähig, einem menschlichen Augenpaar eine bestimmte Emotion zuzuordnen. Das Gift hatte ihre Gesichtsmuskeln lahmgelegt – und damit auch ihre Fähigkeit, sich in andere einzufühlen.
Die Botox-Fanatikerin und der Poseur haben viel gemeinsam. Beide gaukeln der Welt vor, etwas zu sein, das sie nicht sind. Ihre Attraktivität ist nicht natürlich, sondern erworben. Wie viel sie dafür aufgeben müssen, ist ihnen egal. Lieber verzichten sie auf ein voll entwickeltes Seelenleben, als unansehnlich zu wirken. Sie wollen nicht anmutig und edel sein, sondern sich gut verkaufen. Die Sache hat nur einen Haken. Die seelische Verarmung, die die intensive Sorge um den äußeren Effekt mit sich bringt, wirkt nicht anziehend, sondern abstoßend. Botox-Opfer und Poser können nur verlieren. Da sie ihr Einfühlungsvermögen einbüßen, können sie sich nicht mehr auf andere beziehen. Und da sie sich nicht mehr auf andere beziehen können, stehen sie am Ende allein da. Dem eigenen verarmten Ich ausgeliefert, dem sie entkommen wollten.
Aus philosophischer Sicht ist ein reiches Innenleben – Mitgefühl, Herzensbildung, geistige Interessen, Kreativität – nicht nur eine hervorragende Versicherung gegen Einsamkeit, sondern auch der Königsweg zur Unabhängigkeit von den »Likes« anderer. Leider ist diese Erkenntnis noch nicht bei allen an gekommen. Damit sie sich in den Gehirnen derer, die sie am nötigsten hätten, ausbreiten könnte, bräuchte es Zeit. Aber wer hat schon Zeit? Der leistungsorientierte, grundsätzlich abgehetzte Arbeitnehmer tippt sich eher an die Stirn, als sich der aufwendigen Pflege seines Inneren zu widmen. Die, die ihre ohnehin schon knappe Freizeit mit Lesen, Malen oder Hausmusik füllen, sind nach wie vor in der Minderheit. Das Verlangen nach multisensorischer Stimulation, d. h. starken, vorfabrizierten Reizen aller Art, ist übermächtig. Die Porno-Ästhetik (s. Kap. 4 ) hat nahezu jeden Winkel unserer Alltagswirklichkeit besetzt. Wo wir gehen und stehen, ist es laut, bunt und spaßig. Der Porno-Kitsch ist zu einer riesigen Lifestyle-Industrie an gewachsen, die TV-Unterhaltung, YouTube-Clips, Werbung und Events umfasst. Und, nicht zu vergessen, Schuhe, Kleidung und Kosmetika. Ganze Heerscharen unwissentlich geschmack los aufgebrezelter Frauen tragen das Porno-Etikett wie ein Qualitätssiegel vor sich her.
Heiterkeit, Sanftmut und Grazie sind die Eigenschaften, die Schiller in der schönen Seele junger Mädchen erkannte. Aber wie, bitte schön, soll sich diese »Schönseelischkeit« (G. W. F. Hegel) in der rauen Realität bewähren? Welches Mädchen und welche Frau traut sich schon, heiter, sanft und graziös zu sein, wenn es von überallher schallt: »Seid tough, seid laut und zeigt, was ihr habt! Zeigt her eure Extensions, Veneers und Brazilian Waxings!«?
Nichts ist lohnender, als diesem Ruf zu widerstehen. Denn: Zu viel Porno-Kitsch legt die Seele lahm. Die Gier nach dem kurzlebigen Effekt, nach dem ständigen Sich-Auftakeln und Sich-was-Reinziehen führt zu vermehrter Fantasielosigkeit. Unsere Sinne ermüden. Unsere Wahrnehmung fällt in einen Tiefschlaf. Wir wissen immer weniger mit uns anzufangen. Wir sind so uninspiriert und abgestumpft, dass wir zur Fernbedienung greifen. Wir verwechseln Porno mit Eros, Daniela Katzenberger mit Marilyn Monroe. Wenn es erst so weit gekommen ist, kann uns nur noch Platon aus unserem Elend heraushelfen.
Empfehlung Nr. 1: Mit Eros gegen seelische Erlahmung
Platon preist Eros, den Gott der Liebe,
Weitere Kostenlose Bücher