SCHÖN!
gewinnen .
Die Kunst, im Hier und Jetzt zu sein, ist keine Domäne fernöstlicher Traditionen. Jede Kultur verfügt über spirituelle Praktiken, die dem schönen Leben (und Sterben, s. Kap. 8 ) dienen. Die Pendants griechischer Lebenskunst sind Yoga, Tantra und Zen-Meditation. Was für Hindus und Buddhisten die Meditation ist, war für Epikureer und Stoiker die »Übung«. Das Sanskritwort bhavana heißt »pflegen, fördern, kultivieren«, das tibetische gom »vertraut werden«, das altgriechische askein »etwas intensiv und kunstvoll bearbeiten«. Drei verschiedene Begriffe für ein einziges Ziel: eine gelungene Existenz, die sich zusammensetzt aus
• Gelassenheit
• innerer Freiheit
• Unabhängigkeit von materiellen Gütern
• Akzeptanz des Unabänderlichen
• Menschenliebe
Typisch griechisch ist allerdings die Kopflastigkeit: In unserer Kultur liegt der Fokus seit jeher auf dem vernünftigen Teil der Seele (griechisch nous bzw. logos ). Der Geist übernimmt stets die therapeutische Hauptrolle bei der Verwirklichung des schönen Lebens.
Relax! – Schöner leben mit Epikur
Der Ursprung philosophischer Übungen, von den Pythagoreern zu den Epikureern, von den Kynikern zu den Stoikern, liegt in Atmungs- und Gedächtnistechniken uralter magisch-religiöser und schamanischer Traditionen. Schon zu Sokrates Zeiten ging es aber längst nicht mehr darum, sich durchs Atmen in Trance zu versetzen, sondern um die Frage, wie man mit rationalen Mitteln sein Leben verbessern könne. Epikur: »Wie wir einer Heilkunst nicht bedürfen, die nicht imstande ist, Krankheiten aus dem Körper zu vertreiben, so bedürfen wir auch einer Philosophie nicht, die nicht das Leiden der Seele vertreibt.«
Epikur lädt uns ein, einen kritischen Blick auf uns selbst und unsere Umgebung zu werfen. Was sehen wir: ausgeglichene, heitere Leute, die im Hier und Jetzt leben und vernünftige Werturteile fällen? Natürlich nicht. Wir sehen Menschen, die ständig unzufrieden sind, Geld, Macht und Sex hinterherhecheln. Menschen, die in dem Glauben sozialisiert wurden, man könne ohne Haus, Auto, Smartphone, Laptop, französischen Rotwein und Rinderfilet nicht leben. Jedenfalls nicht schön . Sehen wir also eine gesunde Gesellschaft? Durchaus nicht. Wir sehen Leute, die an Gier, Neid und Hass erkrankt sind, weil sie entweder zu viel besitzen oder zu wenig, und ansonsten vergeblich versuchen, ihre Angst vor dem Tod zu verdrängen.
Epikur geht hart mit uns ins Gericht. Für ihn sind wir stets beunruhigte und getriebene Kreaturen, die durch ihre irrigen Vorstellungen alles viel komplizierter machen, als es eigentlich ist. Schuld sind unsere verfehlten Meinungen über das schöne Leben, die uns immer weiter von unserer eigentlichen Natur ent fernen. Was es heißt, naturgemäß zu leben, sehen wir am besten an kleinen Kindern. Am Verhalten dieser Wesen, die genau wie wir Verstand besitzen, aber anders als wir noch nicht von falschen Meinungen korrumpiert sind, können wir nämlich eindeutig ablesen: Es liegt nicht in unserer Natur, unzufrieden und unglücklich zu sein – sondern Lust zu empfinden und uns zu freuen.
Diese erstrebenswerte Verfassung ergibt sich beim Erwachsenen aber leider nicht durch bloße Einsicht, sondern nur durch stetes, sorgfältiges Üben. Es gilt, am Beispiel des Kindes die »natürlichen« Freuden von den »leeren« Freuden unterscheiden zu lernen. Natürlich und gut ist alles, was Hunger und Schmerzen stillt und meist leicht zu beschaffen ist (Wasser, Brot und Schlaf) – leer und schädlich alles, was ständig nach mehr verlangt und von einem Unruhezustand zum nächsten führt (das nächste Stück Kuchen, die nächste Beförderung, das nächste Paar Pumps). Dass der Mensch so intensiv nach leeren Freuden verlangt, ist auf unhinterfragte soziale Konventionen zurückzuführen. Diese, mahnt Epikur, verleiten uns nicht nur dazu, die leeren mit den natürlichen Freuden zu verwechseln, sondern auch, unsere kostbare Energie in Aktivitäten zu stecken, die das schöne Leben verhindern. Der Weise braucht zu seinem Glück nie mehr als nötig. Eine minimale Freude, die den Hunger vertreibt, kommt der maximalen Glückserfüllung gleich, einer quasi-dionysischen Ekstase: »Bring mir ein Stück Käse, damit ich, wenn ich Lust dazu habe, ein Festmahl veranstalten kann.«
Wer weise ist, ist kraft seines Verstandes Herr über seine Begierden und hält in allem das rechte Maß. Und wer mit praktischer Vernunft den Weisungen der Natur
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