SCHÖN!
kann mehr sein als sechzig Sekunden, ein Jahr mehr als 365 Tage – oder weniger. Ein Jahr, das in Termine, Stundenpläne, Zeitfenster eingeteilt wird, rauscht unbemerkt vorüber. Eines, das von Augenblick zu Augenblick gelebt wird, kann wie eine Ewigkeit scheinen. Ein einziger Augenblick ist fast nichts – und kann doch alles sein.
Für Epikur ist Philosophieren eine Art Entspannungsübung. Er plädiert dafür, sich locker zu machen und jede Gelegenheit zur Heiterkeit zu ergreifen: »(N)otwendigerweise also währt unser Dasein nicht ewig, du aber, der du nicht Herr über den morgigen Tag sein kannst, du schiebst die Freude auf später auf. Das Leben jedoch zehrt sich unter diesen Verzögerungen auf, und jeder von uns stirbt, ohne jemals zur Ruhe gekommen zu sein.«
Nichts anderes meint auch der Vers von Horaz ( 65 – 8 v. Chr.): »Carpe diem.« Es geht darum, sich jetzt die Erlaubnis zu geben, die Arbeit zu unterbrechen und mit einem Freund zu plaudern, ein Kind huckepack zu tragen oder dankbar einen Sonnenstrahl zu genießen – anstatt darauf zu hoffen, dass morgen alles »schöner« wird. Denn das Leben ist eine äußerst zerbrechliche Angelegenheit, die, gerade weil sie so plötzlich zu Ende gehen kann , jederzeit, in jedem Augenblick einen absolut unersetzlichen Wert besitzt. Nach dieser Logik ist Glück nichts, von dem wir nie genug haben können (wie Schuhe oder Sex). Es ist eine aktive innere Einstellung, die völlig unabhängig davon ist, ob wir haben, was wir wollen. Es kommt immer weniger darauf an, dass wir irgendwann unsere Ziele erreichen (und folglich glücklich sind) als darauf, dass wir jetzt glücklich sind (während wir versuchen , unsere Ziele zu erreichen).
Was für die Epikureer die Entspannung, ist für die stoische Lebenskunstschule (benannt nach ihrem ursprünglichen Sitz, einer Stoa, »bunte Säulenhalle«) die Wachsamkeit. Die Stoiker ermahnen uns, bloß keine Sekunde zu verträumen. Wir sollen, wie der spätstoische Kaiser-Philosoph Marc Aurel ( 121 – 180 n. Chr.) in seinen Selbstbetrachtungen schreibt, »die gegenwärtige Zeit begrenzen«, indem wir sie von Vergangenheit und Zukunft strikt abtrennen. Denn nur so können wir uns von den Problemen distanzieren, die an unseren Nerven zerren. Wenn wir unseren Liebeskummer, unser überzogenes Konto, unser Übergewicht oder unsere Angst vor Krankheit aus einer kosmischen Perspektive betrachten, schrumpft das, was war, und das, was sein wird, auf ein überschaubares Maß zusammen. Einfach dadurch, dass wir uns klarmachen, dass sich jenseits des momentanen Gedankens, der gerade unseren Geist okkupiert, die Unermesslichkeit des Alls befindet. Wozu sich über Vergangenes und Künftiges aufregen? Auf die Vergangenheit haben wir sowieso keinen Einfluss mehr (sie steht ja schon fest), und auf die Zukunft haben wir noch keinen Einfluss (sie ist ja noch nicht). Nur die Gegenwart gehört uns. Nur über sie können wir – zumindest teilweise – bestimmen. Entsprechend hat Glück rein gar nichts mit Leistung, Erfolg, Besitz oder guter Gesundheit zu tun, Dingen, die irgendwann einmal wichtig waren oder sein werden. Aber eben nicht jetzt. Was vor drei Jahren war oder was in zwei Stunden sein wird, sollte uns nicht aus der Fassung bringen. Glücklichsein heißt, sich auf den Augenblick zu konzentrieren. Wer jetzt nicht glücklich ist, ist es (möglicherweise) nie. Weder das Glück noch die Philosophie ist eine Frage der richtigen Umstände, sondern der geistigen Haltung.
Aus stoischer Sicht sind die tausend Aufgaben und Pflichten, die wir ständig als Ursachen für verhindertes Glück anführen – wechselweise der Job, der Partner, die Kinder, der Haushalt, der Streit mit den Nachbarn und die Urlaubsplanung – nichts als Ausreden. Wie der römische Staatsmann und stoische Philosoph Seneca (ca. 4 v. Chr. – 65 n. Chr.) schreibt:
»Neue Geschäfte werden sich immer und immer wieder einstellen: Wir säen sie geradezu, und aus jedem einzelnen entstehen mehrere. Außerdem billigen wir uns den Aufschub selbst zu: ›Habe ich das erst fertig, dann will ich mich mit allen Kräften darauf stürzen‹ … ›Es kommt ja doch etwas dazwischen, das mich hindert.‹ – Aber nicht bei einem Mann, der bei aller Geschäftstätigkeit geistig froh und frisch bleibt.«
Ein schönes Leben zu wollen und es zu leben, sind zwei völlig verschiedene Dinge: Wer das Leben aufschiebt, hat schon verloren. Wer einsieht, dass es nie schöner ist als jetzt, kann nur
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