SCHÖN!
eine permanente Übung (askesis) in Bewusstheit, Weisheit, Besonnenheit, Gerechtigkeit und Mut, und da ein tugendhaft gelebtes Leben automatisch als schön galt, war die Philosophie nicht nur einfach der sicherste Weg zum Glück. Sie war das Glück selbst.
Diogenes, der Begründer der kynischen Schule, und alle anderen Lebenskunstphilosophen rufen uns auf: Gestalte dein Leben so, dass es bejahenswert ist! Solange wir ständig im Stress sind, weil wir unser Geld, unsere Jugend, unsere Gesundheit oder unsere Liebsten bedroht sehen (oder alles zusammen), ist das natürlich völlig unmöglich. Bejahen können wir unsere Existenz nur, wenn es uns gelingt, uns von Affekten, die uns einengen und lahmlegen (Angst, Wut, Neid, Hass, Scham, Gier …), weitgehend zu befreien. Um ja sagen zu können, so die Philosophen der Antike, brauchen wir weder finanzielle Sicherheiten noch eine perfekte Figur, sondern eine Lebenskunst als Heilkunst . Eine Heilkunst, bei der die Praxis zählt, wie Aristoteles in seinem Protreptikos betont, nicht die Theorie:
»Wir bleiben gesund nicht dadurch, dass wir die Dinge kennen, die unsere Gesundheit fördern, sondern dadurch, dass wir sie dem Körper zuführen … und, das Wichtigste von allem, wir leben ein schönes und edles Leben nicht auf die Weise, dass wir einiges von dem Seienden erkennen, sondern dadurch, dass wir gut handeln; denn dies ist wahrlich das glückliche Leben.«
Theoretische Weisheiten sind nichts gegen eine philosophische Therapie, die uns schädliche Emotionen und Verblendungen austreibt und uns Seelenruhe beschert. Niemand wird schließlich als Diogenes geboren. Niemand wählt ohne Grund eine Tonnen-Existenz. Das schöne Leben bedeutet Arbeit an sich selbst, eine ständige Umformung des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns . Wie ein Bildhauer soll der Philosophierende »seine eigene Statue meißeln« (Plotin). Was natürlich nicht heißt, dass er in einer gekünstelten Pose erstarren soll. Die eigene »schöne« Gestalt ist vielmehr von Anfang an im Stein enthalten – man muss bloß immer wieder das Unwesentliche weghauen. Wesentlich am Menschen ist allein das, was ihn von Natur aus ausmacht: sein Verstand und seine Moral (der rationale Teil seiner Seele), seine Unabhängigkeit von Äußerlichkeiten und sein kosmisches Bewusstsein: die Gewissheit, Teil eines größeren Ganzen zu sein.
Jetzt oder nie: Die Kunst des Gegenwärtigseins
Klingt das alles nicht ein bisschen antiquiert? Durchaus nicht. Nur weil die Lebenskunstlehren einer längst versunkenen Welt angehören, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht mehr aktuell sind. Im Gegenteil. Eine kynische Kur kann mehr bewirken als sämtliche Schönheitsoperationen, Erfolgscoachings, Incentives und Stressbewältigungsseminare zusammen. Eine einzige Nacht mit knurrendem Magen und ohne Federkernmatratze kann uns daran erinnern, dass wir viel weniger weit vom schönen Leben entfernt sind, als wir es zu sein glauben. Dass dieses Leben keine Belohnung für eine bestimmte Leis tung ist – sondern dass es (möglicherweise) schon begonnen hat. In der Sekunde nämlich, in der wir beschlossen haben, uns hauptsächlich auf das zu konzentrieren, was wirklich zählt. Das philosophische Leben steht (fast) jedem offen, und es kennt keine Altersbeschränkung – so Epikur (ca. 341 – 270 v. Chr.), der Begründer der nach ihm benannten Schule, im Brief an Menoikos: »Darum soll der Jüngling wie der Greis Philosophie treiben, der eine, damit er im Alter noch jung bleibe, … der andere, damit er, gleichzeitig jung und alt, furchtlos der Zukunft entgegensehen kann.«
Um zu beweisen, dass wir die philosophische Medizin geschluckt haben, müssen wir nicht unbedingt wie Diogenes in dreckigen Fetzen herumlaufen. Wir können uns auch an etwas moderatere Lebenskunstexperten halten: die Epikureer oder die Stoiker. Für beide ist die Philosophie eine Übung, die in erster Linie dazu dient, sich jeden einzelnen Augenblicks bewusst zu sein. Wer nicht achtsam mit seiner Zeit umgeht, verschenkt seinen größten Schatz. Weisesein heißt Gegenwärtigsein. Denn das schöne Leben befindet sich weder in der Zukunft noch in der Vergangenheit, sondern nur im Hier und Jetzt. Der Moment ist alles, was wir brauchen, um uns von unseren Ängsten und Begierden zu befreien und einfach glücklich zu sein. Wenn wir an dieser Stelle einwenden: Ein Moment genügt aber nicht, das ist viel zu wenig!, vergessen wir, dass Zeit nur begrenzt messbar ist. Eine Minute
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