SCHÖN!
überschwänglich als Ursprung sämtlicher menschlicher Fähigkeiten. Nur Eros kann der Seele des Menschen Flügel verleihen und ihn von den Niederungen attraktiver Körper zu den Gipfeln des Wah ren und Guten, zur »Idee des Schönen« führen. Die sinnli che Schönheit kann, so Platon, immer nur ein Vorgeschmack auf Höheres sein. Sie ist bloß der Abglanz seelisch-geistiger Schönheit.
Wenn Eros den ihm von Platon zugewiesenen Stellenwert bekäme, hätten wir unter seinem Einfluss gar keine Lust mehr, uns auf große Brüste, glatte Stirnen und durchtrainierte Muskeln zu fixieren. Uns stünde der Sinn nach Erbaulicherem. Frauen würden sich nur noch in Männer verlieben, die ihre in neren Werte zu schätzen wüssten. Männer würden sich in Frauen verlieben, die ihnen die Poesie Friederike Mayröckers nahebrächten. Natürlich wären damit die Probleme zwischen den Geschlechtern nicht gelöst. (Platon war schließlich Idealist; der Idealist der ersten Stunde.) Männer würden Frauen immer noch betrügen. Sie würden immer noch Bordelle aufsuchen – aber nicht, weil ihnen ihre Partnerinnen sexuell unattraktiv erschienen, sondern weil sie sich weigerten, Goethes Wilhelm Meister mit ihnen zu diskutieren. Die Mädchen im Puff würden nicht Lola oder Tiffany heißen, sondern Diotima oder Athene. Sie würden auch nicht in knappen Bikinis und Mörderplateaus herumstöckeln, sondern dick eingepackt sein. Sie trügen Holzfällerhemden, Schlaghosen, flache Treter und kein Make-up und würden den Kunden durch laszives Blättern in Kants Schrift Zum ewigen Frieden auf sich aufmerksam machen. Dann würden sie ihn zu einer Couch dirigieren, wo sie ihn in einen heißen sokratischen Dialog über Gerechtigkeit verwickeln würden. Sie würden mit Gräzismen und Latinismen um sich werfen, bis die Kundschaft auf den Geschmack kommen und einen flotten Dreier verlangen würde. Schon würden sich eine promovierte Germanistin und eine Ästhetik-Professorin auf ihn stürzen, um ihm Hegels Dialektik des Selbstbewusstseins einzutrichtern. Dazu gäbe es Live-Performances: Werke von Monteverdi, Händel und Bach …
So weit wird es kaum kommen. Trotzdem würde uns eine zusätzliche Prise Eros nicht schaden. Sie könnte nicht nur unsere Paarbeziehungen, sondern auch unser Leben insgesamt sehr viel angenehmer machen. Weil sie uns erlauben würde, uns weniger als (ohnmächtige) Empfänger von Liebe und Leben, sondern als ihre (selbstmächtigen) Erzeuger zu empfinden. Egal, ob es sich bei unseren Erzeugnissen um Kinder oder um kreative Produkte, Briefe, Essays, Bücher, Musikstücke und vieles mehr handelt, das wir aus und mit Liebe hervorbringen.
Empfehlung Nr. 2: Mit Dionysos zu rauschhafter Vitalität
Mit der Liebe ist es wie mit dem Leben. Beide lohnen nur, wenn sie aktiv und intensiv praktiziert werden. Sie erfordern unsere ganze Beteiligung, unser totales Engagement – echte Vitalität. Diese finden wir nicht unbedingt bei Jette und Dietmar von nebenan, bei denen immer alles läuft wie am Schnürchen. Sondern eher bei jenen hochkreativen, übersensiblen, komplizierten Geschöpfen, die es riskieren, ihr »Image« in den Sand zu setzen. Zu diesen seltenen Exemplaren zählen die Diven (s. Kap. 5 ). So dunkel es in der Seele von Romy Schneider oder Amy Winehouse auch ausgesehen haben mag – so hell strahlt der Stern ihrer Kunst. Was für uns eher die Ausnahme ist, ist für die Diva die Regel: der Rausch. Der alkoholische Rausch, der sexuelle Rausch, vor allem aber auch der künstlerische Rausch. An dem Phänomen Diva sehen wir, dass Räusche nicht bloß pathologisch sind, sondern eine existenzielle lebenssteigernde Bedeutung haben können. Ihre Überzeugung, dass ein Leben ohne Ekstase sinnlos sei, rückt die Grenzgänger der Showbranche in die Nähe des von Friedrich Nietzsche so verehrten Halbgottes Dionysos (Bacchus).
Dionysos ist nicht leicht auf den Begriff zu bringen – er verkörpert Weisheit und Wahnsinn, Fremdes und Vertrautes, Männliches und Weibliches gleichermaßen. Die Erfahrung des Dionysischen ist den Idealen der rationalen Kontrolle, der Selbstbeherrschung, der logischen Transparenz diametral entgegengesetzt. Sie sprengt die Normalität des Alltäglichen, all der banalen Aufgaben, Pflichten und Zwänge, die unser reibungsloses Funktionieren erfordern. Dionysos fragt den Menschen nicht erst höflich, wann es ihm in den Terminkalender passen würde, berauscht und enthusiasmiert zu werden – er bemächtigt sich seiner
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