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SCHÖN!

SCHÖN!

Titel: SCHÖN! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebekka Reinhard
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einfach … bis beide in Ekstase miteinander verschmelzen, bis Gott und Mensch eins werden. Traditionsgemäß erfolgt die Fusion mit dem Göttlichen nicht im stillen Kämmerlein durch Meditation oder Kontemplation, sondern in einer Gruppe von Besessenen, durch kollektive Raserei. Zum Dionysoskult gehören Ausschreitungen – »Exzesse« im wortwörtlichen Sinne –, bei denen die Besessenen tanzen, springen, singen und schreien, bis alle Schranken fallen.
    Was, wenn auch wir dem Dionysischen anheimfielen? Wir würden auf die Einheit des Schönen, Wahren und Guten pfeifen. Platons elitäre »Ideen« wären uns piepegal – wir würden blind unseren triebhaften Impulsen folgen. Auf den platonischen Eros gäben wir wenig, viel aber auf ständig wechselnde Intimpartner. Treu wären wir nur unseren besten Freunden: Jim Beam, Jack Daniel’s und Johnny Walker. Wenn wir morgens unausgeschlafen, unrasiert und verquollen an unseren Schreibtisch gingen, würden wir uns erst einmal einen Joint drehen. Trotzdem wären wir so vital wie nie. Anstatt unsere Abende einsam zu Hause mit einem Buch, oder, die antiplatonische Va riante, vor dem Fernseher zu verbringen, würden wir zum Tanzen gehen. Wir würden mit Gleichgesinnten Theaterstücke mit Titeln wie »Das wilde Mannweib« oder »Die unumkehrbar Verrückten« einstudieren. Dem logischen Denken könnten wir nicht mehr viel abgewinnen. Unser Job fiele unserem Lebenswandel zum Opfer. Was uns aber egal wäre, da wir mit unserer Kunst einen Nerv getroffen hätten: Vielleicht hätten wir sogar so viel Erfolg mit dem Theaterspielen, dass wir keine weitere Einnahmequelle benötigten …
    Ganz offensichtlich verkörpert Dionysos das genaue Gegenteil von Eros. Auf der einen Seite stehen Kontemplation, Kultiviert heit, Transparenz, auf der anderen Seite Verwirrung, Triebhaftigkeit, Chaos. Was bedeutet das nun für unsere Seelenpflege? Fassen wir die Empfehlungen beider Götter in einer kurzen Übersicht zusammen:
    Eros’ DO’s:
• Lass dich zum Philosophieren verführen.
• Bringe nicht nur Kinder hervor, sondern auch Gedichte.
• Erkenne, dass du durch die Liebe zum Schönen an der Ewigkeit teilhaben kannst.
    Eros’ DONT’S:
• Sei nicht so triebhaft.
• Weine nicht deiner verlorenen Jugendblüte nach (nichts ist schöner als reife Weisheit).
• Trink nicht so viel (sonst leidet deine Erkenntnisfähigkeit).
    Dionysos’ DO’s:
• Trink, so viel du willst.
• Suche das rauschhafte Gemeinschaftserlebnis.
• Spiele, tanze und hau ordentlich auf den Putz (bevor du ins Gras beißen musst).
    Dionysos’ DONT’S:
• Sei nicht so entsetzlich rational.
• Glaube nie, du wärst vor dem Wahnsinn gefeit.
• Fürchte dich nicht vor dem Dunklen, Abgründigen (es ist ein Teil von dir).
    Was immer Dichter und Denker aller Zeiten über die menschliche Seele geschrieben haben, eines ist klar: Sie ist eine hochkomplexe Einrichtung. Ihr Wesen ist das Widersprüchliche, Konflikthafte. Sie besteht aus unterschiedlichen, schwer zu vereinenden Bestandteilen: geistig-moralischen – und emotionalen. Die Seele hat nicht nur die Fähigkeit, edel zu sein. Sie ist auch in der Lage zu fühlen und zu erspüren, was der Verstand allein nicht begreifen kann. Was ihre Qualität ausmacht, ist nicht nur ihr Streben nach hohen Idealen, sondern auch ihre Kenntnis tiefer Abgründe.
    Eine allzu »vergeistigte«, von unerreichbaren Idealen besessene Seele kann leicht an Vitalität verlieren. Damit sie in ihrem Sehnen nach dem Guten, Wahren und Schönen nicht ermüdet, darf sie sich dem irrationalen Rauscherlebnis nicht verschließen. Ihrer Konstitution am förderlichsten ist es, wenn sie den Mut hat, beiden Prinzipien zu folgen: dem erotischen und dem dionysischen. Wenn sie in beide Richtungen ausschwingen kann – in die geistigen Höhen und in die rauschhaften Tiefen. Anders als Schiller meinte, muss eine Seele nicht immer nur »schön« sein. Sie darf auch durch ihre Erhabenheit (s. Kap. 5 ) bestechen: Sie darf ruhig etwas Gewaltiges, Wildes, Unberechenbares, Naturhaftes an sich haben. Sanftmut und Grazie sind bei Weitem nicht ihre einzigen Ausdrucksmöglichkeiten. Spontaneität und Ekstase gehören ebenso dazu. Je umfangreicher ihr Repertoire, desto beeindruckender ihre Substanz, desto strahlender ihre Außenwirkung.
    Für die altgriechischen Philosophen von Sokrates bis Plotin war die Seele (psyché) das Herzstück des Menschen: der Sitz seiner Gefühle, Begierden, Leidenschaften und seiner Moralität,

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