SCHÖN!
Philosophen Pyrrhon von Elis (ca. 360 – 270 v. Chr.) diente es dazu, schön zu leben. Mit der Skepsis prägte Pyrrhon eine revo lutionär neue Sicht der Dinge, die in die westliche Kulturgeschichte einging und auch philosophische Ausnahmegestalten wie Montaigne (s. Kap. 8 ) nachhaltig beeindruckte.
Die pyrrhonische Skepsis dreht sich um die provokante These, dass man nichts, was einem im Leben begegnet, wirklich ernst nehmen muss – weil nichts wirklich sicher, real und wahrhaftig ist. Da Pyrrhon alles gleichermaßen als vorläufig und fragwürdig ansieht, hält er es für gänzlich überflüssig, seine Gedanken aufzuschreiben, geschweige denn, eine Schule zu gründen. Er ist der Auffassung, er wisse, dass er nichts wisse – aber nicht einmal das wisse er sicher. Inspirationen zu dieser radikalen Weltanschauung findet Pyrrhon fern seiner Heimat in der Begegnung mit indischen »nackten Weisen«, den von den Griechen so genannten Gymnosophisten, als er den Zug Alexanders des Großen nach Asien begleitet. Das, was er von den orientalischen Lehren aufschnappt, verwandelt Pyrrhon in eine augenzwinkernde Philosophie, die (fast) ohne Inhalte auskommt.
Pyrrhon pfeift auf sogenannte Werte und eine wie auch immer geartete Wahrheit über das Leben. Seiner Meinung nach ist es völlig egal, ob wir den Stoikern folgen oder den Epikureern (s. Kap. 7 ), genauso, wie es gleichgültig wäre, ob wir CDU wählten oder die Piraten, ob wir im Yoga nach Antworten suchten oder im Investmentbanking, in der Philosophie oder in der Hirnforschung. Denn all unsere Begriffe, Meinungen und Urteile sind austauschbar. Wir hängen nur deshalb so an den Christdemokraten, am Zeitsparen, an der Faltenunterspritzung oder an was auch immer, weil wir gewöhnt sind, daran zu hängen. Nur deshalb schreiben wir diesen Dingen einen Wert zu, nur deshalb meinen wir, sie trügen zu einem glücklichen Leben bei. Tatsächlich aber, meint der Skeptiker, sind all unsere Werturteile nichts anderes als Behauptungen. Und gegen jede Behauptung lässt sich Widerspruch einlegen. Jedem »Gefällt mir!« entspricht ein »Gefällt mir nicht!« Nichts ist schön oder hässlich, schmerzhaft oder angenehm, gut oder böse, wahr oder unwahr. Es scheint nur immer so oder so. Sogar Honig scheint nur süß zu schmecken. Wie er wirklich schmeckt, was er wirklich ist – jenseits unserer subjektiven, gewohnheitsmäßigen Wahrnehmung – steht in den Sternen. Wenn uns aber die Beschaffenheit der Welt, wie sie wirklich ist, völlig unbekannt ist (da wir ja alles durch die menschliche Brille sehen), ist es sinnlos, sich an die »Wahrheit« einer bestimmten Überzeugung oder Konvention zu klammern. Man kann nach Belieben den Standpunkt wechseln, einfach so aus Spaß, bis einem schwindelig wird. Denn alles, was »falsch« ist, kann aus einer anderen Perspektive »richtig« erscheinen, alles, was »richtig« ist, »falsch«. Alles ist möglich, denn nichts ist mehr dieses als jenes. Angesichts dessen plädiert Pyrrhon für die Urteilsenthaltung, die epoché . Anstatt zu versuchen, uns auf die ständig wechselnden Bewertungen der Realität einen Reim zu machen oder Behauptungen, die mit unseren Dogmen nicht übereinstimmen, mit Gegenbehauptungen zu bekämpfen, sollen wir lieber ganz aufhören zu denken. Egal, was uns widerfährt, »Epoché!« ist laut Pyrrhon die einzig vernünftige Reaktion. Werden wir die Zielvorgaben erreichen? Epoché! Wer hat recht, wer unrecht? Epoché! Was ist Glück? Epoché! Geld oder Yoga? Epoché!
Nur die gewissenhaft praktizierte Urteilsenthaltung befreit von dem Zwang, alles verstehen und kontrollieren zu müssen. Für Pyrrhon und alle Skeptiker nach ihm ist sie deshalb der Schlüssel zum schönen Leben: einem Leben, das dem Lauf der Natur folgt; in dem es keine Fremdbestimmtheit, keinen Erwartungsdruck, keinen Stress und keine maßlos aufwühlenden Emotionen gibt – nur heitere Gelassenheit.
So weit die Theorie. Aber wie soll man sich die Praxis skeptischer Lebenskunst vorstellen? In dem Werk Leben und Meinungen berühmter Philosophen des spätantiken Philosophiehistorikers Diogenes Laertios (ca. 3 . Jh. n. Chr.) heißt es:
»Er lebte ganz fromm mit seiner Schwester zusammen, einer Hebamme. Man erzählt sich, dass es dem berühmten Pyrrhon nichts ausmachte, Vögel oder Wildschweine selbst zum Markt zu tragen und zu verkaufen, genauso, wie er auch mit vollkommener Gleichgültigkeit regelmäßig die Hausarbeiten erledigte und sogar hin und wieder ein
Weitere Kostenlose Bücher