Schönbuchrauschen
Vielleicht hätte ich ihn lieber gewinnen lassen sollen, dann wäre das alles nicht passiert. Aber vorbei ist vorbei.« Er schaute traurig an sich hinunter. »Wir haben nach dem Duschen eine Cola getrunken und wollten dann in die Stadt zurück. Ich merkte auf den ersten paar Metern schon, dass er seine Aggressionen mit dem Gaspedal abreagieren musste, und bat ihn, nicht so halsbrecherisch zu fahren. Aber er lachte bloß und jagte die Karre durch die lange, abschüssige Rechtskurve, dass die Reifen quietschten. Und dann weiß ich nichts mehr. Ich bin erst im Krankenbett wieder zu mir gekommen.«
»Aber Sie haben inzwischen erfahren, was passiert ist?«
Er nickte.
»Ein Kollege ging am nächsten Tag hin und hat die Striche auf der Straße fotografiert, und der Lkw-Fahrer hat mich einmal besucht. Das fand ich sehr nett. Der arme Kerl musste ja auch mit der Sache fertig werden, obwohl er gar nichts dafür kann.«
»Waren Sie mit Lipp eng befreundet?«
»Nein, eine Freundschaft war das wirklich nicht. Ich kannte ihn erst seit ungefähr zwei Jahren. Wir waren gute Kollegen, die ab und zu miteinander Tennis spielten und sich manchmal über Zukunftspläne austauschten. Abgesehen davon war er unnahbar, und es konnte ja auch keiner von uns mit ihm mithalten. Wir waren sehr verschieden. Ich bin seit kurzem verheiratet. So etwas konnte er sich überhaupt nicht vorstellen. Ich muss versuchen, so schnell wie möglich meinen Facharzt zu machen, damit ich mich möglichst bald auf Dauer niederlassen kann. An so etwas brauchte er nicht zu denken. Er stammte aus einer Arztfamilie, schon sein Großvater war Arzt, und sein Vater hat in Stuttgart eine gut gehende Augenarztpraxis aufgebaut, die er jederzeit hätte übernehmen können. Aber das wollte er noch nicht. Die Praxis war verpachtet und hat ihm gutes Geld gebracht.«
»Sein Vater lebt also nicht mehr?«
»Nein. Er ist vor ein paar Jahren gestorben und hat ihm alles vermacht. Er war ein gemachter Mann. ›Irgendwann, wenn ich Lust habe, übernehme ich den Laden, aber im Moment habe ich noch keine Lust dazu. Chef spielen kann ich noch lange genug, wenn ich über vierzig bin‹, sagte er mal zu mir. Ja, er war schon in einer beneidenswerten Lage. Zwischendurch konnte er sich auch mal einen unbezahlten Urlaub leisten. Damit hat er sich bei den Kollegen nicht gerade beliebt gemacht. – Darf ich Sie fragen, warum Sie das alles interessiert? Lipp ist doch tot.«
»Weil in Lipps Wohnung eingebrochen wurde. Das ist ein sehr seltsamer Fall, in dem es noch einige Rätsel zu lösen gibt. Wissen Sie, ob Lipp der einzige Erbe seines Vaters war?«
»Da bin ich nicht sicher. Aber mir gegenüber hat er niemals von Geschwistern geredet. Man könnte es annehmen.«
»Wer erbt jetzt das ganze Vermögen? Oder wer verwaltet es?«
»Keine Ahnung. Ich könnte meinen Anwalt fragen. Der untersucht gerade, was er an Schmerzensgeld und Behindertenrente herausschlagen kann, falls Lipps Versicherung sich knickerig anstellt. Oder noch besser: Sie wenden sich an den Pächter der Lippschen Arztpraxis. Den können Sie bestimmt über die Ärztekammer finden, und der Pächter wird ja wissen, mit wem er es geschäftlich zu tun hat. Denn wie ich meinen lieben Ex-Kollegen einschätze, hat er sich mit Verwaltungskram nicht abgegeben. Das hat er anderen überlassen.«
»Und über Lipps Privatleben wissen Sie sonst nichts? Verstehen Sie bitte, ich fordere Sie nicht zum Klatschen auf, sondern bitte Sie um Hilfe bei einer Ermittlung.«
»Ja, ich weiß. Ich kann Ihnen aber trotzdem nichts sagen, höchstens …«
»Höchstens?«
»Na ja, das ist dann aber doch Klatsch. Höchstens, dass er in Sachen Frauen nicht den besten Ruf hatte. Aber davon habe ich nur gehört.«
»In der Klinik?«
»Er war hinter all den jungen Damen her, Praktikantinnen, Schwestern, Kolleginnen, egal.«
»Er hatte also keine feste Beziehung?«
»So genau weiß ich das gar nicht. Es gibt nur eine Frau, mit der ich ihn mehrmals gesehen habe, und zwar beim Tennis. Er spielte mit ihr zusammen gemischtes Doppel.«
»Name?«
»Ich weiß nur, dass er sie Judy oder Jude rief, manchmal so, manchmal so. Wir duzen uns ja beim Sport, und so förmlich, dass er sie mir richtig vorgestellt hätte, war er nie drauf. Er hatte immer so etwas furchtbar Unverbindliches an sich.«
»Hat er sich damit nicht viele Sympathien verdorben?«
»Bei manchen schon. Aber er hatte auch seine positiven Seiten. Es war angenehm, mit ihm zusammenzuarbeiten. Das muss
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