Schöne Lügen: Roman (German Edition)
»Telefonnummer«, befahl er. Sie gab ihm die Telefonnummer ihrer Tante und die Adresse.
Er klappte den Notizblock zu: »Machen Sie es sich gemütlich, Miss O’Shea. Ich habe einige Ferngespräche zu führen.« An der Tür wandte er sich, mit der Hand auf der Klinke, noch einmal um. »Ach, übrigens, Mike wird draußen vor der Tür stehen.«
»Erwarten Sie, daß ich ein Maschinengewehr unter meinem Rock hervorzaubere und alles hier in die Luft jage?« fragte sie mit all der Gehässigkeit, zu der sie fähig war.
»Nein, das erwarte ich nicht. Ich weiß, was sich unter Ihrem Rock befindet.« Mit einem unverschämten Blick verbeugte er sich, dann trat er in den Flur und schloß die Tür hinter sich.
Erin zerriß es vor Wut, sie lief in dem Zimmer auf und ab, tobte, weinte und verfluchte Mr. Lawrence Barrett in der nächsten halben Stunde. Doch als keine dieser energieaufwendigen Maßnahmen ein Ergebnis zeitigten oder ihre
Situation änderten, kniete sie sich resigniert auf den Boden und brachte etwas Ordnung in ihre Koffer. Ihre Hand zitterte, als sie das Nachthemd berührte, das er aus dem Koffer geholt und beinahe zärtlich gestreichelt hatte.
Er war ein Widerling, erteilte Befehle, tyrannisierte jeden und hatte sie ohne Grund beleidigt. Seine Aktionen waren allesamt brutal gewesen, selbst als er sie geküßt hatte. Warum nur kehrten ihre Gedanken immer wieder dahin zurück, wenn sie doch diesen Vorfall am liebsten in den hintersten Winkel ihrer Gedanken verbannt hätte?
Sie tröstete sich nur mit einem: Da er nicht ihr Bruder war, zählte Inzest also nicht zu seinen Sünden.
Ich werde nicht mehr an diesen Kuß denken, schwor sie sich. Und sie würde auch nicht mehr an dieses eigenartige Gefühl der Schmetterlinge in ihrem Bauch denken, das sie jedesmal befallen hatte, wenn Mr. Barrett sie mit seinen Blicken durchbohrte. Es war eine vollkommen unfreiwillige Reaktion, daß sich ihre Lippen ein wenig öffneten, als seine Augen auf ihnen geruht hatten, während er sie an sich gepreßt hielt. Erin O’Shea hatte damit nichts zu tun. Ganz sicher nicht.
Aber warum strebte sie dann danach, sich selbst etwas einzureden?
Sie hatte den Kopf an die Rückenlehne des Sofas gelegt und die Augen geschlossen, als er die Tür öffnete. Erschrocken zuckte sie zusammen. War sie etwa eingeschlafen?
»Das Glück scheint Ihnen heute nicht hold zu sein, Miss O’Shea.«
»Was wollen Sie damit sagen?« Ungehalten registrierte sie die Furcht in ihrer Stimme.
»Ich habe die Telefonnummer von Spotlight bekommen, aber es antwortet niemand am anderen Ende der Leitung.«
»Was?« rief sie. Dann aber begriff sie den Grund dafür. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »In Houston ist es schon nach achtzehn Uhr. Meine Angestellten sind alle nach Hause gegangen«, jammerte sie.
»Bart Stanton ist für die nächsten beiden Tage ins Panhandle ( Anm. d. Übers.: Ölförderungsgebiet im NW von Texas) gereist. Unter seiner Nummer in Shreveport meldet sich niemand.«
Erin rieb sich über die Stirn. Denk nach, Erin, befahl sie sich selbst. Doch in ihrem Kopf wirbelten noch immer die Gedanken an die Ereignisse der letzten beiden Stunden. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit sie an diesem Morgen aus dem Flugzeug von Houston gestiegen war. Sie war erschöpft und konnte nicht mehr klar denken. Zu viele unerwartete und unbegreifliche Dinge waren an nur einem Nachmittag auf sie eingestürmt.
»Eines allerdings habe ich zu Ihren Gunsten herausgefunden. Ich habe Mrs. Lyman gefragt, ob ihr Mann adoptiert wurde. Er wurde.«
»Dann glauben Sie mir doch sicher endlich.« Sie haßte den bittenden Ton ihrer Stimme und die Tränen, die sie in ihren Augen aufsteigen fühlte.
»Ich komme der Sache ein wenig näher«, gab er zu.
»Oh, danke, Mr. Barrett. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich jetzt gehen. Für mich war es ein langer, ermüdender Tag, das darf ich wohl behaupten. Ich werde im Hotel Fairmont übernachten, wenn Sie mir noch irgendwelche Fragen stellen möchte. Natürlich bin ich erschüttert über
das, was meinem Bruder zugestoßen ist, und ich möchte wissen, wie die Sache ausgeht. Ich werde San Francisco nicht verlassen, ehe der ganze Wirbel aufgeklärt ist.«
Sie nahm ihre Handtasche und ihren Ledermantel und ging zur Tür, die sie leider nicht erreichte. Mr. Barrett legte ihr eine Hand auf die Schulter und nahm ihr die Tasche aus der Hand.
»Sie irren sich schon wieder, Miss O’Shea. Sie werden nirgendwo hingehen, sondern
Weitere Kostenlose Bücher