Schöne Lügen: Roman (German Edition)
Die Art seiner Erklärung ließ nicht viel Spielraum für eine Diskussion, deshalb beschloß Erin zu schweigen. Er war nicht verheiratet, schon seit langer Zeit nicht mehr. Aus unerfindlichen Gründen beruhigte sie das und erfüllte sie mitWärme.
Nach einigen weiteren Löffeln schüttelte sie den Kopf: »Ich glaube, ich möche nichts mehr, danke.«
»Wahrscheinlich war das genug fürs erste. Zum Mittagessen bekommen Sie eine Kartoffelsuppe.«
»Eine französische?« fragte sie erfreut.
Seine Augenbrauen zogen sich ablehnend zusammen. »Nein, nein, eine praktische aus der Dose«, worauf beide verständnisvoll grinsten.
»Erzählen Sie mir von Ihrer Familie«, bat Erin, als Lance das Tablett von ihrem Schoß nahm. Der Duft seiner Seife stieg in ihre Nase, als er sich über sie beugte. »Sie haben eine Schwester?«
»Ja. Sie und ihr Mann erfreuen sich an vier Kindern. Wenn wir alle zusammen kommen, mit Mom und Dad, dann geht es zu wie in einem Tollhaus.«
Erin fühlte einen Anflug von Eifersucht. Gerald O’Shea hatte keine Brüder und Schwestern mehr, die noch lebten. Ihre Mutter hatte nur eine Schwester, die in Louisiana lebte und kinderlos verwitwet war. Erin hatte gehofft, daß Ken einen großen Clan haben würde, sie sehnte sich nach Verwandten. Nach Blutsverwandten. Nach Ahnen. Nach einer Familie.
»Ich beneide Sie«, sagte sie. »Ich habe mir immer Kusinen und Vettern gewünscht, Verwandte, die ich im Sommer und in den Ferien besuchen könnte. Ich wünschte, Ken und Melanie hätten Kinder.« Sie seufzte. Manchmal waren die einfachsten Träume diejenigen, die sich am wenigsten erfüllten.
Lance ging durch das Zimmer zum Fenster und stand dann mit dem Rücken zu ihr. »Wir haben eine Spur von Lyman gefunden«, sagte er völlig unerwartet.
Erin setzte sich auf, all ihre Teilnahmslosigkeit war mit einem Schlag verflogen. »Wirklich? Melanie sprach gestern abend schon davon. Was ist geschehen?«
»Wir haben herausgefunden, daß er einen Wagen gemietet hat. Natürlich hatten wir sofort an diese Möglichkeit gedacht, aber irgend jemand hat vergessen, ausgerechnet bei dieser kleinen Mietwagenfirma nachzufragen. Als der Eigentümer der Firma bei der Polizei meldete, daß ihm jemand einen gefälschten Führerschein vorgelegt hatte, kam die Polizei auf uns zu. Der Mann hat Lymans Identität bestätigt, als wir ihm ein Bild zeigten.« Lance atmete tief ein. »Also haben wir jetzt eine konkrete Spur. Wir wissen, was für einen Wagen er fährt, und wir kennen das Nummernschild des Wagens. Es sollte nicht länger als ein paar Tage dauern, bis wir ihn gefunden haben.«
Dazu konnte Erin nichts sagen. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen, insgeheim betete sie, daß ihr Bruder schon sehr bald zur Vernunft kommen würde und sich selbst der Polizei stellte, ehe man ihn fand.
»Dr. Joshua hat den Bericht geschickt, den Sie für Ihren Arzt nach Houston mitnehmen sollen. Er liegt unten.« Lance schien an dem Thema kein weiteres Interesse zu haben, und Erin ging es genauso.
»Gut, ich werde daran denken, ihn einzustecken, ehe ich nach Hause fahre«, sagte sie nur.
Erst jetzt bemerkte Erin, daß es regnete, ziemlich heftig sogar. Große dicke Tropfen schlugen an das Fenster, und der Regen trommelte auf das Dach des Hauses. Im Zimmer war es dämmrig, man fühlte sich heimelig und vertraut.
»Sicherlich müssen Sie zurück zu Ihrer Firma und … zu allen …, wenn man Lyman erst einmal gefunden hat.« Lances Stimme war tief und klang leise wie der Donner, der über die Hügel in der Ferne rollte. Er sah so groß aus vor dem grauen Hintergrund des Fensters. Den Unterarm hatte er an den Rahmen gelehnt, den Kopf in die Hand gestützt. Sein Daumen strich über das Grübchen an seinem Kinn.
»Ich denke schon«, erwiderte Erin ausweichend. Plötzlich erschien ihr die Aussicht, nach Houston zurückzufahren, nicht sehr verlockend. Aber sie liebte doch ihr Leben, das sie dort führte! Sie liebte ihre Firma. Sie mochte Bart. Aber irgendwie hatte das alles plötzlich an Wichtigkeit verloren. Sie wollte diesen Mann hier verstehen, wollte alles über seine Hoffnungen erfahren und sie ihm erfüllen, das bedeutete mehr als alles andere. Sein Glück lag ihr am Herzen. Wenn man sie in diesem Augenblick vor die Wahl stellen würde,
würde sie sich bestimmt eher für das Zusammensein mit Lance in diesem Zimmer entscheiden als für irgendwas sonst auf der Welt.
Es kam ihr so vor, als liebte sie ihn.
Seine unheimliche Gabe,
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