Schöne Lügen: Roman (German Edition)
Beerdigung überstand sie äußerlich gelassen.
Eine Trauer, wie sie sie seit dem Tode Gerald O’Sheas nicht mehr verspürt hatte, ergriff von Erin Besitz, als sie einen Blick auf den bescheidenen Sarg mit den kupferfarbenen Chrysanthemen warf, der die sterblichen Überreste ihres Bruders enthielt.
Sie hatte so kurz davorgestanden, ihn kennenzulernen und zu lieben, so nahe am Ziel war sie gewesen, und nun
mußte sie diese Hoffnung mit ihm begraben. Nie würde sie seine Stimme hören. Und sie würde nie die Eigenheiten seiner Persönlichkeit kennenlernen. Wäre sie nur ein paar Tage früher in sein Leben getreten, so hätte ihr Erscheinen vielleicht seinen ganzen Lebenslauf ändern können. Hätte ihre Existenz in seinem Leben vielleicht die Wende gebracht?
Während der Beerdigungszeremonie hielt sie sich tapfer, genau wie Melanie. Nur ganz am Rande folgte sie dem Geschehen, war sie doch in einen tiefen Sumpf der Verzweiflung gestürzt.
Als sie ins Haus der Lymans zurückkehrten, herrschte schon Dämmerung. Erin ging mit Melanie nach oben und brachte sie bis zu ihrem Zimmer. Als allererstes wollte Erin das schwarze Kleid ausziehen, und zwar ein für allemal, sie würde es nie wieder tragen.
Rasch schlüpfte sie in die Jeans, die sie in der ersten Nacht in diesem Haus angehabt hatte und dazu in einen bequemen Pullover, dann bürstete sie ihr Haar und erneuerte das Make-up. Als sie damit fertig war, fühlte sie sich schon ein wenig besser, deshalb beschloß sie, obwohl sie gar nicht hungrig war, etwas von den vielen Gerichten zu probieren, die Freunde und Nachbarn mitgebracht hatten. Sie hatte sich noch immer nicht vollständig von ihrer Krankheit erholt, fühlte sich weiterhin angeschlagen und hatte auch in den letzten drei Tagen nur wenig gegessen.
Am Fuß der Treppe blieb sie wie angewurzelt stehen, denn zu ihrem Erstaunen kam Melanie die Treppe herunter und schleppte zwei schwere Koffer mit sich.
»Melanie, was …«
»Erin, das ist wahrscheinlich das Unhöflichste, was ich je
in meinem Leben getan habe, aber ich werde dich hier alleinlassen.«
Erin war verblüfft über Melanies Ruhe. »Aber … aber wo willst du hin? Und warum?«
»Hast du meine Eltern nicht gehört?«
Man kann sie nicht überhören, wäre Erin beinahe herausgerutscht. Die Winslows hatten ihre Tochter von der Beerdigung nach Hause begleitet, und kaum im Haus angelangt, hatten sie Melanie bedrängt, sie solle mit ihnen kommen. Sie waren recht massiv geworden und der jungen Witwe auf den Leib gerückt.
»Ich habe ihnen gesagt, daß ich die Nacht in meinem eigenen Haus verbringen möchte, ganz besonders, da du ja auch noch hier bist. Aber ich mußte ihnen meine Rückkunft für morgen versprechen.« Melanie preßte entschlossen die Lippen aufeinander. »Das ist ein Versprechen, das ich auf keinen Fall einlösen werde. Sie haben mein Leben ruiniert, ganz zu schweigen von Ken. Ich werde ihnen nicht die Möglichkeit geben, mich wieder vor ihren Karren zu spannen.«
Erin sah sich hilfesuchend um, sie entdeckte, daß Lance hinter ihr stand. Er hörte Melanies Erklärung ebenfalls.
»Aber wo willst du heute nacht hin?« fragte Erin, als klammere sie sich an einen Strohhalm.
»Das weiß ich noch nicht.« Melanie zuckte die Schultern. »Es ist mir auch gleichgültig, ich will auf alle Fälle weg. Weg von ihnen.« Sie vergrub die Hände in den Taschen. »Eigentlich will ich das Haus gar nicht verkaufen, aber ich kann es nicht ertragen, hierzubleiben und ihren ständigen Sticheleien ausgesetzt zu sein. Verstehst du mich?«
Es war eine Bitte um Mitgefühl. Trotz all ihrer Einwände gegen Melanies Pläne sagte Erin: »Natürlich verstehe ich dich.«
»Danke, Erin, inzwischen kenne ich dich ja. Ich lasse einen Brief für meine Eltern hier und lege ihn auf den Tisch im Flur. Bitte gib ihn ihnen, wenn sie morgen kommen, um mich abzuholen.«
»Gerne würde ich mehr für dich tun.«
»Nein, ich werde mich bei dir melden. Ich habe deine Adresse und deine Telefonnummer in Houston notiert. Ganz gewiß ist es nicht nett von mir, einen Gast einfach so sitzenzulassen, aber ich muß es tun, es geht nicht anders.«
Erin lächelte. »Ich bin kein Gast, ich gehöre zur Familie.«
»Brauchen Sie noch etwas, Mrs. Lyman? Haben Sie genug Geld?« fragte Lance ruhig, der noch immer hinter Erin stand. Er befürwortete Melanies Entschluß voll und ganz.
»Ja, ich habe mein eigenes Konto. Es tut mir leid, daß ich Ihnen noch mehr Arbeit aufbürde, Mr. Barrett,
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