Schöne Neue Welt
ein etwas unterwürfiges Lächeln.
»Was verabreichen Sie denn da?« fragte Päppler, bemüht, einen möglichst sachlichen Ton anzuschlagen.
»Ach, gegen Typhus und Schlafkrankheit, wie gewöhnlich.«
»Künftige Tropenarbeiter werden schon von ein Meter
einhundertfünfzig an geimpft«, belehrte Päppler die Studenten.
»Die Embryos haben noch Kiemen. Wir machen den Fisch
immun gegen die Krankheiten des späteren Menschen.« Dann wandte er sich an Lenina: »Heute nachmittag, zehn vor fünf, auf dem Dach«, sagte er. »Wie gewöhnlich.«
»Entzückend«, wiederholte der Direktor noch einmal und
folgte, nach einem letzten Klaps, den anderen.
Auf Regal 10 wurden ganze Reihen künftiger Chemiearbeiter an die Einwirkungen von Blei, Ätznatron, Teer und Chlor gewöhnt. Der erste Schub einer Lieferung von
zweihundertfünfzig Raketeningenieuren in embryonalem
Zustand passierte soeben Meter 1100 auf Regal 3. Eine
besondere Vorrichtung bewirkte, daß ihre Behälter ständig kreisten. »Zur Stärkung des Gleichgewichtssinns«, bemerkte Päppler. »Reparaturen an der Außenseite einer Rakete in der Luft sind eine kitzlige Aufgabe. Wir verlangsamen, wenn die Embryos aufrecht stehen, den Kreislauf des Blutsurrogats, bis sie halb verhungert sind, und beschleunigen ihn, wenn sie auf dem Kopf stehen. Sie gewöhnen sich also daran, Kopfstehen mit
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Wohlbehagen zu assoziieren. Ja, sie sind nur dann wirklich glücklich, wenn sie auf dem Kopf stehen können.«
»Und nun«, fuhr Päppler fort, »möchte ich Ihnen einige interessante Einzelheiten bei der Normung von alpha-plus Intellektuellen zeigen. Wir haben eine große Lieferung auf Regal fünf. Erste Galerie!« rief er zwei Studenten zu, die ins Parterre hinuntersteigen wollten.
»Sie befinden sich etwa bei Meter neunhundert«, erklärte er.
»Die Normung Intellektueller kann mit Erfolg erst dann
begonnen werden, wenn die Fetusse ihre Schwänze verloren haben. Folgen Sie mir!«
Aber der Direktor sah auf die Uhr. »Zehn vor drei«, sagte er.
»Keine Zeit mehr für die intellektuellen Embryos, fürchte ich.
Wir müssen in die Pflegesäle hinauf, bevor die Kinder aus ihrem Nachmittagsschläfchen erwachen.«
Päppler war enttäuscht. »Wenigstens einen Blick ins
Entkorkungszimmer«, bat er.
»Na schön.« Der Direktor lächelte nachsichtig. »Aber nur einen Blick!«
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Zweites Kapitel
Päppler blieb im Entkorkungszimmer zurück, als der BUND
und die Studenten mit dem nächstgelegenen Aufzug ins vierte Stockwerk fuhren.
KLEINKINDERBEWAHRANSTALT. NEO-
PAWLOWSCHE NORMUNGSSALE, verkündete ein Schild.
Der Direktor öffnete eine Tür. Sie betraten einen großen, kahlen, sehr hellen und sonnigen Raum; die ganze Südwand bestand aus einem einzigen Fenster. Ein halbes Dutzend
Pflegerinnen, vorschriftsmäßig in Anzüge aus weißem
Viskoseleinen gekleidet, das Haar unter weißen Hauben
verborgen, war soeben dabei, Schalen voller Rosen in langer Reihe auf den Boden zu stellen. Große Schalen, die dicht gefüllt waren. Tausende von Blütenblättern, prall und seidenglatt wie die Pausbäckchen unzähliger Englein, aber nicht lauter rosig arischer,
sondern auch mattgelb mongolischer und
mexikanischer; Bäckchen, vom vielen Blasen der himmlischen Posaunen apoplektisch purpurn angelaufen; Bäckchen, totenblaß und fahl wie Friedhofsmarmor.
Die Pflegerinnen standen stramm, als der BUND eintrat.
»Stellen Sie die Bücher auf!« befahl er kurz.
Schweigend gehorchten sie. Zwischen die Rosenschalen
wurden Bücher gestellt, eine Reihe Kinderbücher, jedes einladend aufgeschlagen auf einer Seite mit dem bunten Bild eines Vierbeiners, Fisches oder Vogels.
»Nun bringen Sie die Kinder!«
Die Pflegerinnen eilten hinaus und kehrten nach ein paar Minuten zurück; jede schob so etwas wie einen hohen Stummen Diener vor sich her, dessen vier drahtvergitterte Fächer mit acht Monate alten Kindern beladen waren, alle einander genau gleich (eine Bokanowskygruppe offenbar) und alle, da sie der
Deltakaste angehörten, in Khaki gekleidet.
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»Setzen Sie sie auf den Boden!«
Die Kinder wurden abgeladen.
»Nun wenden Sie sie so, daß sie die Blumen und Bücher
sehen können!«
Kaum war das geschehen, verstummten die Kinder und
begannen auf die Sträuße mit ihren seidig schimmernden
Farben, auf die so fröhlich auf den weißen Buchseiten
leuchtenden Figuren loszukrabbeln. Die Sonne,
einen
Augenblick lang verdunkelt, kam hinter einer Wolke hervor.
Die Rosen
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