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Schöne Neue Welt

Schöne Neue Welt

Titel: Schöne Neue Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aldous Huxley
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flammten auf, wie von jäh erwachter Leidenschaft durchglüht; neue, tiefere Bedeutsamkeit schien die bunten Bilder zu erfüllen. Aus den Reihen der krabbelnden Kinder ertönten kleine aufgeregte Schreie, freudiges Lallen und Zwitschern.
    Der Direktor rieb sich die Hände. »Großartig!« sagte er.
    »Fast wie auf Bestellung!«
    Die flinksten Babys waren schon am Ziel. Unsicher streckten sich Händchen aus, berührten, ergriffen und entblätterten die vom Sonnenlicht verklärten Rosen,
    zerknitterten die
    Bilderbuchseiten. Der Direktor wartete, bis alle vergnügt beschäftigt waren. »Und nun passen Sie auf!« sagte er und gab mit erhobener Hand ein Zeichen.
    Die Oberpflegerin, die am anderen Ende des Saales vor einem Schaltbrett stand, drückte einen kleinen Hebel herunter.
    Ein heftiger Knall. Gellendes und immer gellenderes
    Sirenengeheul. Rasendes Schrillen von Alarmglocken.
    Die Kinder fuhren zusammen. Sie begannen zu schreien, die Gesichtchen von Entsetzen verzerrt.
    »Und jetzt«, brüllte der Direktor, denn der Lärm war
    ohrenbetäubend, »werden wir ihnen die Lektion mit einem kleinen elektrischen Schlag einbleuen.«
    -34-

    Er winkte abermals, die Oberpflegerin drückte einen zweiten Hebel. Das Schreien der Kinder hörte sich plötzlich anders an.
    Verzweiflung, fast Wahnsinn klang aus diesen durchdringenden Schreikrämpfen. Die kleinen Körper zuckten und erstarrten, ihre Arme und Beine bewegten sich ruckartig, wie von unsichtbaren Drähten gezogen.
    »Wir können diesen Teil des Fußbodens unter Strom setzen«, brüllte der Direktor erklärend. »Aber jetzt genug!«
    bedeutete er der Pflegerin.
    Die Detonationen hörten auf, die Klingeln verstummten, das Sirenengeheul erstarb nach und nach. Die zuckenden
    Kinderleiber lösten sich aus ihrem Krampf, das irre Stöhnen und Schreien ebbte zu einem gewöhnlichen Angstgeplärr ab.
    »Geben Sie ihnen noch mal die Blumen und Bücher!«
    Die Pflegerinnen gehorchten, aber beim bloßen Anblick der Rosen,
    der bunten Bilder mit den Miezekatzen,
    Hottehüpferdchen und Bählämmern wichen die Kinder
    schaudernd zurück; ihr Geplärr schwoll sogleich wieder zu Entsetzensgeschrei an.
    »Beachten Sie das, meine Herren«, sagte der Direktor
    triumphierend, »beachten Sie das genau!« Bücher und
    unerträglicher Lärm, Blumen und elektrische Schläge - schon der kindliche Verstand verband diese Begriffe miteinander, und nach zweihundert Lektionen dieser oder ähnlicher Art waren sie unlösbar miteinander verknüpf t. Was der Mensch
    zusammenfügt, das kann die Natur nicht trennen.
    »So wachsen sie mit einem, wie die Psychologen zu sagen pflegten, ›instinktiven‹ Haß gegen Bücher und Blumen auf. Wir normen ihnen unausrottbare Reflexe an. Ihr ganzes Leben lang sind sie gegen Druckerschwärze und Wiesengrün gefeit.« Der Direktor wandte sich an die Pflegerin. »Schaffen Sie sie hinaus!«
    -35-

    Noch immer plärrend, wurden die Khakikinder wieder auf die Stummen Diener verladen und hinausgefahren; sie hinterließen den Geruch von saurer Milch und eine höchst willkommene Stille.
    Ein Student hob den Finger: Er sehe ja ein, daß es nicht gehe, Angehörige der niederen Kasten ihre der Allgemeinheit
    gehörende Zeit mit Büchern vergeuden zu lassen, ganz
    abgesehen von der Gefahr, daß sie etwas lesen könnten, das unerwünschterweise einen ihrer angenormten Reflexe
    beeinflussen könnte, und doch - nein, er verstehe das mit den Blumen nicht. Warum mache man sich die Mühe, die Psyche der Deltas darauf zu normen, daß sie keine Freude an Blumen hatten?
    Geduldig erklärte es der BUND. Kinder beim Anblick einer Rose in Schreikrämpfe zu versetzen, entsprang einer höchst ökonomischen Voraussicht. Vor gar nicht langer Zeit, etwa hundert Jahre war es her, hatte man Gammas, Deltas, sogar Epsilons die Liebe zu Blumen und überhaupt Freude an der Natur angenormt. Sie sollten das Bedürfnis haben, bei jeder sich bietenden Gelegenheit ins Grüne zu pilgern, und dadurch gezwungen werden, Verkehrsmittel zu benutzen.
    »Und benutzten sie sie?« fragte der Student.
    »Jawohl, ausgiebig«, erwiderte der BUND. »Aber sonst
    nichts.«
    Primeln und Landschaft, dozierte er, hätten einen großen Nachteil: sie seien gratis. Die Liebe zur Natur halte keine Fabrik in Gang. Man hatte daher beschlossen, die Liebe zur Natur abzuschaffen, wenigstens bei den niederen Kasten, nicht aber den Hang, die Verkehrsmittel zu benutzen. Denn es war
    natürlich unerläßlich, daß sie auch weiterhin ins

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