Schöne Neue Welt
an den üblichen Liebesspielen zu beteiligen. Ist mir schon ein paarmal aufgefallen. Heute wieder. Gerade hat er zu weinen
angefangen...«
»Ach, bitte«, sagte das kleine, ängstlich blickende Mädchen,
»ich wollte ihm nicht weh tun, wirklich nicht, bitte.«
»Natürlich nicht, Herzchen«, beruhigte die Pflegerin sie und wandte sich wieder an den Direktor: »Ich bringe ihn jetzt zur psychologischen Aufsicht. Mal nachsehen lassen, ob vielleicht irgend etwas Abnormes vorliegt.«
»Gut so«, antwortete der Direktor. »Führen Sie ihn nur hin.
Du bleibst da, Kleine!« fügte er hinzu, während sich die Pflegerin mit ihrem heulenden Schützling entfernte.
»Wie heißt du denn?«
»Pola Trotzki.«
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»Ein hübscher Name. Und nun lauf und such dir einen
anderen Spielkameraden!«Die Kleine hüpfte davon und
verschwand im Gebüsch.
»Niedliches Ding!« bemerkte der Direktor, ihr nachblickend.
»Was ich Ihnen jetzt berichten will, meine Herren, klingt vielleicht unglaublich. Allein, wer mit der Geschichte nicht vertraut ist, dem klingen die meisten historischen Tatsachen unglaublich.«
Er enthüllte die unfaßbare Wahrheit. Während langer Zeiten, vor dem Erdenwallen Fords des Herrn und sogar noch ein paar Generationen später, wurden erotische Spiele bei Kindern für widernatürlich gehalten - (brüllendes Gelächter!) -, ja nicht nur das, sondern auch für unanständig - (hört, hört) - und daher rücksichtslos unterdrückt.
Ungläubiges Staunen malte sich auf den Gesichtern seiner Zuhörer. Armen kleinen Kindern ihre harmlosen Spiele zu
verbieten! Es ging ihnen einfach nicht ein.
»Selbst Heranwachsenden wie Ihnen -«
»Ist das möglich!«
»Von ein bißchen heimlicher Selbstbefriedigung und
Gleichgeschlechtlichkeit abgesehen, gab es gar nichts.«
»Ga-ar nichts?«
»Meist erst mit zwanzig Jahren.«
»Mit zwanzig Jahren?« echoten die Studenten ungläubig im Chor.
»Jawohl, mit zwanzig Jahren«, wiederholte der Direktor.
»Ich habe Ihnen ja gesagt, Sie werden es nicht glauben.«
»Und was geschah?« wurde gefragt. »Was waren die
Folgen?«
»Die Folgen waren furchtbar«, ließ sich plötzlich eine tiefe, volltönende Stimme vernehmen.
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Sie blickten sich um. Am Rand der Gruppe stand ein Fremder, mittelgroß, mit dunklem Haar und Adlernase, vollen roten Lippen und dunklen, durchdringenden Augen. »Furchtbar«, wiederholte er.
Der BUND hatte sich auf eine der bequemen Bänke aus Stahl und Gummi, die im Garten aufgestellt waren, niedergelassen.
Beim Anblick des Fremden sprang er auf, stürzte ihm mit ausgestreckter Hand entgegen und lächelte mit allen
zweiunddreißig Zähnen.
»Welch unverhofftes Vergnügen! Jungen, seht ihr denn nicht, wer da ist? Der Herr Weltaufsichtsrat. Seine Fordschaft Mustafa Mannesmann.«
In den viertausend Sälen der Zentrale schlugen viertausend elektrische Uhren gleichzeitig vier. Körperlose Stimmen
schallten aus den Lautsprechern: »Erste Tagschicht Ende.
Zweite Tagschicht Anfang.
Erste Tagschicht Ende.«
Im Aufzug, während der Fahrt hinauf in die Umkleideräume, kehrten Henry Päppler und der Erste Prädestinationsassistent ihrem Kollegen Sigmund Marx aus dem Psychologiebüro
ziemlich auffällig den Rücken; sie hielten sich von dieser anrüchigen Erscheinung fern.
Das gedämpfte Summen und Rattern der Maschinen in der
Purpurschwüle des Embryonendepots dauerte fort.
Schichten kamen und gingen, ein lupusfarbenes Gesicht
machte dem anderen Platz, aber unablässig zogen die
Förderbänder majestätisch weiter, beladen mit den Männern und Frauen der Zukunft.
Lenina Braun eilte munter zum Ausgang.
Seine Fordschaft Mustafa Mannesmann! Den grüßenden
Studenten traten die Augen fast aus dem Kopf. Der Aufsichtsrat für Westeuropa! Einer der zehn Weltaufsichtsräte. Einer der
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Zehn - und jetzt setzte er sich mit dem BUND auf die Bank, er verweilte, wahrhaftig, er weilte unter ihnen, richtete leibhaftig das Wort an sie - aus erster Quelle.
Direkt aus dem Munde Fords des Herrn.
Zwei krebsrote Kinder tauchten aus dem nahen Gebüsch auf, starrten einen Augenblick groß und staunend und verschwanden dann wieder zu ihren Spielen zwischen den Blättern.»Sie alle kennen«, begann der WAR mit seiner tiefen, markigen Stimme,
»Sie alle kennen wohl den schönen und wahren Ausspruch
Fords des Herrn: Geschichte ist Mumpitz. Geschichte«,
wiederholte er langsam, »ist Mumpitz.«
Er unterstrich seine Worte mit einer
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