Schöne Neue Welt
Schlafschule schloß Mustafa Mannesmann.
Die Studenten nickten voller Überzeugung. Mehr als
zweiundsechzigtausend Wiederholungen zur Schlafenszeit
hatten ihnen diesen Spruch nicht nur als lautere Wahrheit, sondern als selbstverständlichen, einfach unumstößlichen Grundsatz eingeprägt.
»Aber ich gehe doch erst vier Monate mit Henry«,
widersprach Lenina.
»Erst vier Monate! Hör sich das einer an! Und nicht genug damit«, fuhr Stinni mit vorwurfsvoll erhobenem Zeigefinger fort, »aber während der ganzen Zeit war da wohl kein anderer als Henry, wie?«
Lenina errötete tief, doch Blick und Stimme blieben trotzig.
»Nein, kein anderer«, entgegnete sie fast heftig.
»Und wozu auch, möchte ich wissen?«
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»Ach, wozu, möchte sie wissen!« echote Stinni, als spräche sie zu einem unsichtbaren Zuhörer hinter Leninas linker
Schulter. Plötzlich änderte sie den Ton. »Allen Ernstes: ich glaube, du solltest vorsichtig sein. Es ist schrecklich ungehörig, so lange mit einem und demselben Mann zu gehen. Mit vierzig oder auch mit fünfunddreißig ist das vielleicht verzeihlich. Aber in deinem Alter, Lenina! Es gehört sich wirklich nicht.
Außerdem weißt du doch, wie sehr der BUND gegen alle
heftigen oder sich hinziehenden Affären ist. Vier Monate mit Henry Päppler, ohne einen anderen Mann daneben - also, er wäre einfach wütend, wenn er wüßte -«
»Denken Sie an den Wasserdruck im Leit ungsrohr!« Sie
dachten daran. »Ich steche das Rohr an einer Stelle an«, sagte der Aufsichtsrat. »Welch ein Strahl!« Er stach es zwanzigmal an: zwanzig ruhig plätschernde Fontänen.
»Mein Kleines. Mein Kleines...«
»Mutter!« Der Wahn ist ansteckend.
»Mein Herzchen, mein Alles, mein teures -«
Mutterschaft, Monogamie, Romantik. Die Fontäne schießt hoch empor: wild schäumt der Wasserstrahl. Der Druck findet nur ein einziges Ventil. Mein Baby, mein Baby! Kein Wunder, daß diese armen Geschöpfe der vormodernen Zeit verrückt, verrucht und todunglücklich waren. Ihre Zeit ließ sie die Dinge nicht leichtnehmen, ließ sie nicht vernünftig, tugendhaft und glücklich sein. In jener Zeit von Mutterschaft und Liebesweh, von Verboten, deren Einhaltung ihnen nicht angenormt war, von Versuchungen und einsamer Reue, von allen möglichen
Krankheiten und endlosem vereinsamendem Schmerz, ewiger Ungewißheit und Armut,
mußten sie notgedrungen
leidenschaftliche Gefühle entwickeln. Und mit ihren
leidenschaftlichen Gefühlen - jedes Individuum noch dazu hoffnungslos einsam auf sich selbst angewiesen -, wie konnte es da Beständigkeit für sie geben?
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»Deshalb brauchst du ihn natürlich nicht gleich aufzugeben.
Nimm von Zeit zu Zeit einen anderen, das genügt. Er hat doch auch andere, nicht?«
Lenina gab es zu.
»Ganz begreiflich! Henry Päppler ist ein tadelloser Kavalier, immer korrekt. Außerdem muß man an den BUND denken. Du
weißt ja, was für ein Pedant er ist.«
Lenina nickte. »Heute nachmittag hat er mir einen Klaps auf den Po gegeben.«
»Na, da siehst du's!« triumphierte Stinni. »Das zeigt am besten, worauf er hält: strikteste Konvention!«
»Beständigkeit«, sagte der Aufsichtsrat. »Beständigkeit!
Keine Zivilisation ohne gesellschaftliche Beständigkeit.
Keine gesellschaftliche Beständigkeit ohne Beständigkeit des einzelnen.« Seine Stimme war eine Posaune. Die Hörer fühlten sich erwärmt, wuchsen über sich hinaus.
Die große Maschine läuft, läuft, muß ewig laufen. Stillstand bedeutet Tod. Eine Milliarde krabbelt auf der Erdrinde. Die Räder haben sich zu drehen begonnen. Hundertfünfzig Jahre später sind es schon zwei Milliarden.
Alle Räder halt! Hundertfünfzig Wochen danach gibt es nur noch eine Milliarde, die anderen tausendmal tausendmal tausend Männer und Frauen sind verhungert.
Die Räder müssen stetig laufen, aber ohne eine treibende Kraft können sie das nicht. Menschen müssen sie antreiben, Menschen, die so fest und sicher im Leben stehen, wie die Räder auf ihren Achsen sitzen; vernünftige, gehorsame, zufriedene Menschen.
Solange sie wimmern: »Mein Baby, meine Mutter, mein
einzig angebetetes Alles«, solange sie stöhnen: »O ich Sünder, o göttliches Strafgericht«, solange sie vor Schmerz aufheulen, im Fieber lallen, Alter und Armut beweinen - wie können sie da die
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Räder antreiben? Und wenn sie die Räder nicht antreiben
können... Tausendmal tausendmal tausend Leichen sind schwer zu beerdigen oder zu verbrennen.
»Und
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