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Schöne Neue Welt

Schöne Neue Welt

Titel: Schöne Neue Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aldous Huxley
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Springbrunnen. »Wenn du nur wüßtest!«
    Helmholtz Holmes-Watson hörte ein wenig unbehaglich zu.
    »Armer kleiner Sigmund!« dachte er. Dabei konnte er aber eine
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    gewisse Scham für seinen Freund nicht unterdrücken. Wenn Sigmund nur ein bißchen mehr Stolz besäße!
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    Fünftes Kapitel
    Gegen acht Uhr begann es zu dunkeln. Die Lautsprecher auf dem Turm des Golfklubs Döberitz verkündeten mit
    übermenschlicher Stimme das Ende der Spielzeit. Lenina und Henry brachen ihr Spiel ab und gingen ins Klubhaus zurück.
    Vom Gelände des Innen- und Außensekretet-Trusts drang das Gebrüll der vielen tausend Rinder herüber, die mit ihren Hormonen und ihrer Milch das Rohmaterial für die große Fabrik in Seegefeld lieferten.
    Die Dämmerung war vom unaufhörlichen Gesumm der
    Helikopter erfüllt. Alle zweieinhalb Minuten meldeten ein Glockensignal und das Schrillen von Pfeifen die Abfahrt eines der leichten Einschienenzüge, die die Golfspieler der niederen Kasten von ihren eigens abgetrennten Plätzen in die Stadt zurückbeförderten.
    Lenina und Henry stiegen in ihren Hubschrauber und flogen ab. In dreihundert Meter Höhe drosselte er den Motor, und ein, zwei Minuten lang schwebten sie nun ruhig über die
    verblassende Landschaft. In den Havelseen spiegelte sich glitzernd der lichte Westhimmel. Der letzte Purpurschein des Sonnenuntergangs über dem Horizont verblich ins
    Orangefarbene und höher hinauf ins Gelbe und wässerige Grün.
    Im Norden funkelten hinter den Bäumen sämtliche Fenster in den zwanzig Stockwerken der Innen- und Außensekretefabrik in grellem elektrischen Glanz.
    Genau unter ihnen lagen die Gebäude des Golfklubs, die
    ausgedehnten Baracken fü r die niederen Kasten und, jenseits einer trennenden Mauer, die kleineren Häuser für Alpha- und Beta-Mitglieder. Die Zugänge zur Einschienenstation waren schwarz vom ameisenhaften, hastigen Gewimmel der niederen Kasten. Aus der gläsernen Abfahrtshalle schoß ein beleuchteter Zug ins Freie. Als sie ihm mit ihren Blicken auf seiner Fahrt in
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    die nächtliche Ebene folgten, sahen sie den majestätischen Bau des Spandauer Krematoriums. Zum Schutz der Flugzeuge
    wurden die vier hohen Schornsteine mit den scharlachroten Warnsignalen an der Spitze nachts angestrahlt. Es war ein Wahrzeichen der Gegend.
    »Warum haben die Schlote diese balkonartigen Dinger
    rundherum?« erkundigte sich Lenina.
    »Phosphorwiedergewinnung«,
    erklärte Henry im
    Telegrammstil. »Auf ihrem Weg durch den Schornstein werden die Gase vier verschiedenen Verfahren unterzogen.
    Bei jeder Leichenverbrennung ging früher Phosphorpentoxyd dem Umlauf verloren. Heute werden mehr als achtundneunzig Prozent davon wiedergewonnen. Über anderthalb Kilogramm
    von dem Leichnam eines Erwachsenen. Also nahezu
    sechshundert Tonnen Phosphor jährlich allein in Deutschland.«
    Er sprach mit fröhlichem Stolz und von Herzen begeistert über diese Errungenschaft, als hätte er persönlich Anteil daran. »Ein schöner Gedanke, daß wir dem Geme inwohl nützen können, auch wenn wir schon tot sind! Wir lassen die Pflanzen
    wachsen.«
    Lenina hatte unterdessen senkrecht in die Tiefe auf die
    Einschienenstation hinabgeblickt. »Ein schöner Gedanke«, stimmte sie zu. »Aber merkwürdig, daß aus Alphas und Betas nicht mehr Pflanzen wachsen als aus diesen ekligen kleinen Gammas, Deltas und Epsilons dort unten.«
    »Alle Menschen sind chemisch-physikalisch gleich«, sagte Henry schulmeisterlich. »Sogar Epsilons leisten unentbehrliche Dienste.«
    »Sogar Epsilons...« Lenina entsann sich plötzlich eines
    Augenblicks in ihrer Schulzeit, als sie mitten in der Nacht erwacht war und zum ersten Mal bewußt das Wispern
    vernommen hatte, das sie in jedem Schlaf verfolgt hatte. Sie sah wieder den Mondstrahl über der langen Reihe weißer Bettchen,
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    hörte wieder die unendlich leise Stimme, die
    jene
    unvergessenen, infolge zahlloser nächtlicher Wiederholungen unvergeßlichen Worte sprach: »Jeder arbeitet für jeden. Wir können niemanden entbehren. Sogar Epsilons sind nützlich. Wir können auch Epsilons nicht entbehren. Jeder arbeitet für jeden.
    Wir können niemanden -«
    Lenina erinnerte sich, wie Angst und Überraschung sie zum ersten Mal erschüttert hatten, erinnerte sich an ihr Grübeln während einer durchwachten langen halben Stunde und dann an die allmähliche Beruhigung ihrer Gedanken unter dem Einfluß dieser unaufhörlichen Wiederholungen, an die Beruhigung und an das Gefühl der

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