Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schöne neue Welt

Schöne neue Welt

Titel: Schöne neue Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aldous Huxley
Vom Netzwerk:
sie.
    »Stimmt, und ›Je zivilisierter, desto sterilisierter«, ergänzte Sigmund spöttisch die zweite Schlafschullektion aus dem Abc der Hygiene. »Aber diese Leute haben nie von Ford dem Herrn gehört und sind nicht zivilisiert. Es hat also gar keinen Sinn -«
    »Oh!« Sie packte ihn am Arm. »Sieh nur!«
    Ein fast nackter Indianer klomm ganz langsam über eine Leiter von der im ersten Stock liegenden Terrasse eines nahen Hauses herab, Sprosse nach Sprosse, mit der zitternden Vorsicht hohen Alters. Sein Gesicht war über und über voll Runzeln und schwarz wie eine Maske aus Obsidian. Der zahnlose Mund war eingefallen. In den Mundwinkeln und am Kinn schimmerten ein paar lange Borsten fast weiß auf der dunklen Haut. Das lange offene Haar hing in grauen Strähnen um sein Gesicht. Sein Leib war krumm und bis auf die Knochen ausgemergelt, fast fleischlos.
    Ganz langsam stieg er herab, hielt auf jeder Sprosse inne, bevor er den nächsten Schritt wagte.
    »Was ist mit ihm los?« flüsterte Lenina, die Augen vor Grauen und Staunen weit aufgerissen.
    »Er ist alt geworden, weiter nichts«, antwortete Sigmund möglichst gleichmütig. Auch er war erschrocken, bemühte sich aber, sich nichts anmerken zu lassen.
    »Alt?« wiederholte sie. »Unser Direktor ist doch auch alt, viele Menschen sind alt, aber keiner sieht so aus.«
    »Weil wir ihnen nicht gestatten, so auszusehen. Wir schützen sie vor Krankheiten. Wir halten ihre innere Sekretion künstlich in jugendlichem Gleichgewicht. Wir lassen ihren Magnesium-Kalzium-Spiegel nicht unter den eines Dreißigjährigen sinken. Wir verabreichen ihnen Frischzellen. Wir halten ihren Stoffwechsel in Gang. Deshalb sehen sie nicht so aus wie der dort. Hinzu kommt, daß die meisten von ihnen sterben, lange bevor sie das Alter dieses Geschöpfs erreicht haben. Kraftvolle Jugend bis zum sechzigsten Jahr und dann - schwupps! das Ende.«
    Lenina hörte nicht zu. Sie beobachtete den Greis. Langsam, unendlich langsam kroch er herab. Seine Füße berührten den Erdboden. Er wandte sich um. Die Augen in den tief eingesunkenen Höhlen strahlten noch ungewöhnlich hell. Ausdruckslos und ohne Staunen blickte er sie eine lange Sekunde an, als wäre sie gar nicht da. Dann humpelte er mit krummem Rücken an ihnen vorbei und verschwand.
    »Das ist ja entsetzlich«, flüsterte sie. »Das ist grauenhaft. Wären wir nur nicht hergekommen!« Sie suchte nach dem Soma in ihrer Tasche und entdeckte, daß sie es, ganz gegen ihre Art, aus Versehen unten in der Schutzhütte liegengelassen hatte. Auch Sigmund hatte keines bei sich. Hilflos mußte sie den Schrecknissen von Malpais ins Auge sehen. Sie häuften sich rasch. Beim Anblick zweier junger Frauen, die ihren Säuglingen die Brust gaben, errötete sie und wandte das Gesicht ab. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie etwas so Unanständiges erblickt. Und das allerschlimmste war, daß Sigmund, statt darüber taktvoll hinwegzugehen, offen über diese abstoßende Szene zu sprechen begann. Nun, da die Wirkung des Somas verflogen war, schämte er sich seiner Schwäche am Morgen im Hotel und machte besondere Anstrengungen, sich als freigeistige Kraftnatur aufzuspielen.
    »Ein wundervoll inniges Verhältnis«, bemerkte er bewußt anstößig. »Welches tiefe Gefühl es erzeugen muß! Oft scheint es mir, als hätte ich etwas versäumt, weil ich keine Mutter hatte. Und vielleicht hast auch du etwas versäumt, Lenina, weil du keine Mutter bist. Stell dir das vor, wie du hier sitzt, dein eigenes Baby im Arm...«
    »Sigmund! Wie kannst du nur!« Ein altes Weib mit entzündeten Augen und kranker Haut, das vorüberkam, lenkte sie von ihrer Entrüstung ab.
    »Gehen wir doch!« bat sie. »Mir gefällt das nicht.«
    In diesem Augenblick kam der Führer zurück, winkte ihnen, ihm zu folgen, und führte sie einen schmalen Weg zwischen den Häusern entlang. Sie bogen um die Ecke.
    Auf einem Abfallhaufen lag ein toter Hund; eine Frau mit einem Kröpf suchte einem kleinen Mädchen das Haar nach Läusen ab. Der Führer blieb am Fuß einer Leiter stehen und wies energisch mit der Hand nach oben und dann nach vorn. Sie folgten seinem stummen Befehl, stiegen die Leiter hinauf und betraten durch die Tür an ihrem Ende einen langen, schmalen Raum, der fast dunkel war und nach Rauch, Bratfett und vielgetragenen, selten gewaschenen Kleidern roch. An seinem anderen Ende war eine zweite Tür, durch die ein Sonnenstrahl und der nahe Lärm sehr lauter Trommeln drangen.
    Sie traten durch

Weitere Kostenlose Bücher