Schoene, raetselhafte Becca
Kunde fragte sie nach dem Spezialfrühstück und riss sie aus ihren trüben Gedanken. Sie zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und antwortete so ausführlich wie möglich. Dabei bemerkte sie aus den Augenwinkeln, dass Trace Bowman aufstand, ein paar Scheine neben seinen Teller legte, den Hut aufsetzte und in den kalten Regen hinaustrat.
Sie atmete zum ersten Mal tief auf, seit er das Lokal betreten hatte.
Dieser Mann mochte sie nicht besonders, und sie hatte das dumpfe Gefühl, dass er ihr gegenüber ziemlich misstrauisch war. Wieder etwas, das sie im Moment überhaupt nicht gebrauchen konnte.
Sie hatte nichts Unrechtes getan. Jedenfalls nicht wirklich, beruhigte sie sich. Na ja, sie war der Schule gegenüber nicht ganz aufrichtig gewesen, was ihre verwandtschaftliche Beziehung zu Gabi anging. Aber hatte sie eine Wahl gehabt?
Obwohl sie wusste, dass sie keinen Grund hatte, nervös zu sein, verursachte ihr der Anblick einer Polizeiuniform ein unangenehmes Gefühl. Eine alte Gewohnheit. Gesetzeshüter waren für ihre Mutter die letzten Menschen gewesen, mit denen sie freundschaftlich verkehren würde. Becca tat gut daran, dem Beispiel ihrer Mutter zu folgen und sich so weit wie möglich von Trace Bowman fernzuhalten.
Dummerweise wohnte er ganz in der Nähe.
Sie warf einen Blick auf die Uhr – eines der wenigen Stücke, die sie noch nicht ins Pfandhaus getragen hatte – und zuckte zusammen. Wieder zerrann ihr die Zeit zwischen den Fingern. Sie hatte das Gefühl, schon seit Tagen auf den Beinen zu sein. Dabei waren gerade erst eineinhalb Stunden vergangen.
Sie eilte zu Gabrielle, die in die Lektüre von Wer die Nachtigall stört vertieft war, ein Buch, für das das Mädchen noch gar nicht reif war. Sie selbst hatte es allerdings auch in dem Alter gelesen.
„Es ist gleich acht. Du musst in die Schule.“
Ihre Halbschwester schaute auf, ohne sie anzusehen. Mit einem tiefen Seufzer klappte sie das Buch zu. „Nur, dass du’s weißt. Ich finde es noch immer nicht fair.“
„Ja, ich weiß. Dir gefällt es hier nicht, und du hältst dich in der Schule für vollkommen unterfordert.“
„Es ist komplette Zeitverschwendung. Allein kann ich viel besser lernen. So habe ich es doch immer gemacht.“
Für ihr Alter war Gabi sehr klug. Becca hatte keine Ahnung, wie sie das bei dieser „Erziehung“ all die Jahre geschafft hatte. Ihre Ausbildung jedenfalls war mehr oder weniger dem Zufall überlassen worden. „Bis jetzt warst du toll in der Schule. In jedem Fach bist du deinen Mitschülern weit voraus. Aber im Moment ist diese Schule das Beste für dich. So lernst du Freunde kennen und Fächer wie Musik, Kunst, Mathematik … Außerdem bist du nicht allein, und ich muss niemanden bezahlen, der auf dich aufpasst, während ich arbeite.“
Diese Diskussion hatten sie schon oft gehabt. Gabi war noch immer nicht überzeugt. „Ich kann sie ausfindig machen. Das weißt du.“
Verstohlen sah Becca sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand sie hören konnte. „Und was dann? Wenn sie dich bei sich gewollt hätte, hätte sie dich nicht bei mir gelassen.“
„Sie wollte wiederkommen. Wie kann sie uns jetzt finden, wenn wir ans andere Ende des Landes gezogen sind?“
Der Umzug von Arizona in den Osten von Idaho führte nicht wirklich quer durchs ganze Land, aber für eine Neunjährige musste es eine enorme Entfernung sein. Welche Wahl hätte sie auch gehabt – nachdem Monica sie vor vollendete Tatsachen gestellt hatte?
„Gabi, ich habe jetzt keine Zeit, darüber zu diskutieren. Du musst in die Schule, und ich muss zurück zu meinen Kunden. Ich habe dir doch gesagt: Wenn wir bis zum Ende der Ferien nichts von ihr gehört haben, versuchen wir herauszufinden, wo sie ist, okay?“
„Du kannst mir viel erzählen.“
Becca verstand sie nur zu gut. Neun Jahre lang hatte man Gabrielle leere Versprechungen gemacht, und immer wieder war sie enttäuscht worden. Wie sollte Becca sie jetzt davon überzeugen, dass sie wirklich meinte, was sie sagte? „Es geht uns doch ganz gut, oder? Die Schule ist gar nicht so schlimm.“
Gabi rutschte vom Stuhl. „Klar. Sie ist toll, wenn man sich zu Tode langweilen will.“
„Leg den Roman einfach in das Schulbuch“, riet Becca ihr. Das hatte bei ihrer chaotischen Erziehung auch funktioniert.
Mit einem theatralischen Seufzer verstaute Gabi ihr Buch im Rucksack, schlüpfte in den Mantel und trottete hinaus in den Regen, wo sie den geblümten Regenschirm aufspannte, den Becca
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