Schöne Ruinen
Zimmer war nicht mehr seins.
Pasquale kehrte in den ersten Stock zurück und zog sich an. Auf seinem Schreibtisch sah er das Foto von Dee Moray und der anderen lachenden Frau. Er hob es auf. Das Bild erfasste nicht einmal annähernd Dees schiere Präsenz, wie er sie in Erinnerung hatte: den hohen, anmutigen Wuchs, den langen, schlanken Hals, die tiefen Teiche ihrer Augen und diese besondere Art, sich zu bewegen, die sich so von anderen Menschen unterschied, geschmeidig und energisch, ohne Kraft zu verschwenden. Er hielt die Aufnahme ganz nah vor sein Gesicht. Ihm gefiel, wie Dee auf dem Bild lachte, die Hand auf dem Arm der anderen, beide kurz davor, sich zu krümmen. Der Fotograf hatte einen authentischen Augenblick eingefangen, in dem sie in Lachen ausbrachen über etwas, was sonst niemand wusste. Pasquale nahm das Foto mit nach unten und steckte es in dem winzigen Flur zwischen Hotel und Trattoria in den Rahmen eines Gemäldes, auf dem Oliven zu sehen waren. Er stellte sich vor, seinen amerikanischen Gästen mit gespielter Beiläufigkeit dieses Bild zu zeigen: Sicher, manchmal stiegen im Hotel zur ausreichenden Aussicht auch Filmstars ab. Sie mochten die Stille. Und das Tennis in den Klippen.
Er starrte auf das Foto und musste wieder an Richard Burton denken. Der Mann hatte so viele Frauen. Interessierte er sich überhaupt für Dee? Er hatte versprochen, sie zu der Abtreibung in die Schweiz zu begleiten. Und dann? Heiraten würde er sie nie.
Und plötzlich hatte Pasquale eine Fantasie, wie er nach Portovenere fuhr und an die Tür eines Hotelzimmers klopfte. Dee, heirate mich. Ich werde dein Kind wie mein eigenes großziehen. Natürlich war es lächerlich zu glauben, dass sie jemanden heiraten würde, den sie gerade erst kennengelernt hatte, dass sie ihn überhaupt heiraten würde. Auf einmal fiel ihm Amedea ein, und die Scham packte ihn. Wie kam er dazu, schlecht von Richard Burton zu denken? Das passiert, wenn man in Träumen lebt, stellte er bitter fest: Man träumt dies, und man träumt das, und dabei verschläft man sein Leben.
Er brauchte Kaffee. Pasquale trat in das kleine Speisezimmer, das erfüllt war vom Licht des späten Vormittags, weil die Läden offen waren. Für diese Tageszeit war das ungewöhnlich, weil seine Tante Valeria sonst bis zum frühen Abend wartete, um die Läden aufzustoßen. Sie saß an einem der Tische und trank ein Glas Wein. Auch das war seltsam für elf Uhr.
Sie blickte auf. Ihre Augen waren rot. »Pasquale.« Ihre Stimme brach. »Gestern Nacht … deine Mutter …« Sie starrte auf den Boden.
Er stürzte an ihr vorbei in den Gang und riss Antonias Tür auf. Auch hier drangen Seeluft und Sonnenlicht ungehindert von Fenstern und Läden herein. Sie lag auf dem Rücken, einen Kranz grauer Haare auf dem Kissen, den Mund leicht geöffnet und verrutscht, die Nase wie der hakenförmige Schnabel eines Vogels. Das Kissen unter ihrem Kopf war aufgeschüttelt, die Decke sorgfältig hochgezogen bis zu ihren Schultern und einmal umgeschlagen, gleichsam bereit für das Begräbnis. Ihre Haut war wächsern, als wäre sie blank gescheuert worden.
Im Zimmer roch es nach Seife.
Nun stand Valeria hinter ihm. Hatte sie ihre Schwester tot aufgefunden … und dann das Zimmer geputzt? Pasquale konnte sich keinen Reim darauf machen. Er drehte sich zu seiner Tante um. »Warum hast du mir das nicht schon gestern Abend nach meiner Ankunft gesagt?«
»Es war Zeit, Pasquale.« Tränen liefen durch die Schorflandschaften ihres alten Gesichts. »Jetzt kannst du fahren und die Amerikanerin heiraten.« Valerias Kinn sank auf die Brust wie bei einem erschöpften Boten, der eine lebenswichtige Nachricht überbracht hat. »Sie wollte es so«, krächzte die Alte.
Pasquales Blick streifte die Kissen unter seiner Mutter und die leere Tasse auf ihrem Nachttisch. »O Zia, was hast du getan?«
Er hob ihr Kinn, und in ihren Augen sah er, wie alles gekommen war: Die zwei Frauen, die am Fenster lauschten, als er mit Dee Moray sprach, und kein Wort verstanden; seine Mutter, die – wie schon seit Monaten – darauf beharrte, dass ihre Zeit gekommen war, dass Pasquale Porto Vergogna verlassen musste, um eine Frau zu finden; seine Tante Valeria, die mit ihrer Hexengeschichte, dass hier niemand jung starb, einen letzten verzweifelten Versuch unternommen hatte, die kranke Amerikanerin zum Bleiben zu bewegen; seine Mutter, die Valeria immer und immer wieder beschwor (»Hilf mir, Schwester«) und bedrängte –
»Sag mir,
Weitere Kostenlose Bücher