Schöne Ruinen
schlimmste nur vorstellbare Sünde auf sich geladen, aber Pasquale wusste, was seine Mutter von ihm erwartet hätte. Und so sagte er: »Es war menschlich von dir, ihr zu helfen.«
Valeria schaute ihm in die Augen und nickte, dann wandte sie den Blick ab. Pasquale versuchte, die Gegenwart seiner Mutter zu fühlen, aber er spürte nur Leere im Hotel. Vollkommene Leere. Er ließ seine Tante in ihrem Zimmer zurück. In der Trattoria saß Alvis Bender mit einer offenen Flasche Wein vor sich an einem schmiedeeisernen Tisch und starrte aus dem Fenster.
Er löste sich aus seiner Versunkenheit. »Alles in Ordnung mit deiner Tante?«
»Ja«, antwortete er, doch er dachte an Michael Deanes Worte – es ist nicht so einfach – und an Dee Moray, die am Vormittag auf dem Bahnhof von La Spezia verschwunden war. Vor einigen Tagen, bei der gemeinsamen Wanderung durch die Berge, hatte ihr Pasquale die Pfade von den Klippen in die benachbarten Orte gezeigt. Und jetzt malte er sich aus, wie sie von La Spezia aus den Weg hinauf in die Berge eingeschlagen hatte.
»Ich mache einen Spaziergang, Alvis.«
Alvis nickte und griff nach seinem Weinglas.
Pasquale passierte den Eingang und ließ die Tür hinter sich zufallen. Er bog um die Ecke und kam vorbei an Lugos Haus. Bettina, die Frau des Kriegshelden, starrte ihn von der Schwelle aus an. Ohne eine Wort des Grußes steuerte er auf den Bergweg zu, der aus dem Dorf hinausführte und von dem bei jedem Schritt kleine Steinchen in die Tiefe stürzten. Schnell erklomm er den alten Eselspfad oberhalb der windgepeitschten Schnur, die seinen albernen Tennisplatz in den Felsen markierte.
Pasquale durchschritt die Olivenbäume an der Klippenwand hinter Porto Vergogna und gelangte zur Kehre mit dem Orangenhain. Endlich erreichte er das Plateau über dem Dorf, wandte sich der nächsten Felsspalte zu und stieg weiter. Ein paar Minuten später kletterte Pasquale über eine Felsengruppe zu dem alten Maschinengewehrbunker – und erkannte sofort, dass ihn seine Ahnung nicht getrogen hatte. Sie war von La Spezia hierhergewandert. Die Zweige und Steine, mit denen er nach ihrem letzten Besuch die Öffnung wieder abgedeckt hatte, waren verschoben.
Ohne den Wind zu beachten, der an seinen Kleidern zerrte, überquerte Pasquale den Riss im Fels und trat auf das Betondach, von dem er sich in den Bunker hinunterlassen konnte.
Es war später am Tag als beim letzten Mal, daher drang von draußen mehr Licht durch die drei schmalen Schießscharten; trotzdem dauerte es ein wenig, bis sich Pasquales Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Dann bemerkte er sie. Zusammengekauert hockte sie ganz hinten an der Felswand, die Jacke um Schultern und Beine geschlungen. Sie machte einen unglaublich zerbrechlichen Eindruck in dem Betongewölbe – ganz anders als die ätherische Gestalt, die erst vor wenigen Tagen in seinem Dorf erschienen war.
»Woher hast du gewusst, dass ich hier bin?«, fragte sie.
»Weiß ich es nicht«, antwortete er. »Ich bloß hoffe.«
Er setzte sich neben sie, gegenüber der Wand mit den Gemälden. Kurz darauf lehnte sie sich an seine Schulter. Pasquale legte den Arm um sie und zog sie an sich, bis ihr Gesicht an seiner Brust ruhte. Bei ihrem letzten Besuch hier war das indirekte Licht des Vormittags durch die Fensterschlitze auf den Boden gefallen. Doch jetzt, am späten Nachmittag, war die Sonne weitergewandert, und ihre Strahlen hatten die Wand erklommen, bis drei schmale Vierecke aus Licht die verblassten Farben der Porträts zum Leben erweckten.
»Ich hatte vor, hinunter zu deinem Hotel zu steigen«, erklärte sie. »Ich wollte nur warten, bis das Licht auf die Bilder fällt.«
»Ist schön«, sagte er.
»Zuerst kam es mir furchtbar traurig vor.« Sie zögerte kurz. »Dass niemand diese Gemälde sieht, meine ich. Aber dann dachte ich mir: Was würde passieren, wenn man diese Wand abbauen und sie irgendwo in eine Galerie stellen würde? Dann wären es bloß noch fünf verblasste Bilder in einer Galerie. Und da wurde mir klar: Vielleicht sind sie nur deswegen so bemerkenswert, weil sie hier sind.«
»Ja. Glaube ich auch.« Still saßen sie da, als der Sonnenschein durch die Scharten langsam die Wand hinaufkroch. Pasquales Augen wurden schwer, und der Gedanke streifte ihn, dass es ein unglaubliches Gefühl von Vertrautheit wäre, so am Nachmittag neben einer Frau einzuschlafen.
An der Bunkerwand erhellte ein Lichtviereck das Gesicht des zweiten Porträts der jungen Frau, und es war,
Weitere Kostenlose Bücher