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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Walter
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schaut ihren lange verschollenen Freund an, diesen verwahrlosten Odysseus, dem endlich die Heimkehr gelungen ist. Zum ersten Mal seit dem entsetzlichen Moment zu Beginn des Stücks, als er nackt vor ihr stand, sind sie zusammen auf der Bühne. Wieder herrscht Schweigen zwischen ihnen wie zu Beginn, und es zieht sich so lange hin, dass es für das Publikum fast unerträglich wird (Warum sagt denn keiner was?) , bis Pat Bender mit einem angedeuteten Schauer flüstert: »Komme ich zu spät?« Die Worte drücken noch mehr Nacktheit aus als sein Auftritt in der ersten Szene.
    Lydia schüttelt den Kopf: Nein, seine Mutter lebt noch. Erleichtert und erschöpft lässt Pat die Schultern sinken und breitet die Hände aus – eine Geste der Ergebenheit. Wieder kommt Dees Stimme aus den Kulissen: »Wer ist es, Liebes?« Lydia blickt über die Schulter, und wieder dehnt sich der Moment ins Unendliche. »Niemand«, erwidert Pat mit gebrochenem Flüstern. Dann greift Lydia nach seiner Hand, und als sie sich berühren, erlischt das Licht. Das Stück ist vorbei.
    Claire hat das Gefühl, als würde ihr die Luft von neunzig Minuten aus der Lunge strömen. Alle Reisenden spüren es – etwas hat sich vollendet –, und im rauschenden Beifall erfüllt sie das Forscherglück: über die zufällige, kathartische Entdeckung des eigenen Selbst. Mitten in dieser Erlösung lehnt sich Michael zu Claire und wispert erneut: »Hast du das gesehen?«
    Auf ihrer anderen Seite drückt sich Pasquale Tursi die Hand aufs Herz, als hätte er einen Infarkt. »Bravo«, sagt er und dann: »È troppo tardi?« Claire kann nur raten, was er meint, denn der ehemalige Italienischübersetzer hat den Kopf in den Händen vergraben und scheint unerreichbar. »Scheiße, Mann«, stöhnt er. »Ich glaube, ich habe mein ganzes Leben vergeudet.«
    Auch Claire hat das Stück zutiefst berührt. Noch vor ein paar Stunden hat sie Shane erzählt, dass ihre Beziehung zu Daryl einfach »hoffnungslos« ist. Jetzt erkennt sie, dass sie während der gesamten Aufführung an Daryl gedacht hat, den hoffnungslosen, unverbesserlichen Daryl, den Freund, von dem sie einfach nicht lassen kann. Vielleicht ist jede Liebe hoffnungslos. Und vielleicht ist Michael Deanes Regel klüger, als er denkt: Wir wollen, was wir wollen – wir lieben, wen wir lieben. Claire kramt ihr Handy heraus und schaltet es ein. Sie sieht die letzte SMS von Daryl: Bitte sag einfach, dir gehts gut.
    Sie schreibt zurück: Mir gehts gut.
    Michael Deane legt ihr die Hand auf den Arm. »Gekauft.«
    Claire blickt auf und glaubt kurz, dass Michael ihr Telefon meint. Dann begreift sie. Sie fragt sich, ob ihr Abkommen mit dem Schicksal noch gilt. Ist Frontmann der große Film, der ihr erlauben wird, weiter in diesem Geschäft zu bleiben? »Du willst das Stück kaufen?«
    »Ich will alles kaufen«, erklärt Michael Deane. »Das Stück, seine Songs – alles.« Er steht auf und schaut sich in dem Thea ter um. »Ich kaufe den ganzen Scheiß.«
    Als sie ihre Visitenkarte zückt (Hollywood? Wirklich?) , bekommt Claire eine begeisterte Einladung zur After-Show-Party von einem ziegenbärtigen und reichlich gepiercten Türsteher namens Keith. Seiner Wegbeschreibung folgend, laufen sie vom Theater aus einen Block zu einer Backsteinfassade, hinter der man über eine breite Treppe in ein absichtsvoll unfertiges Gebäude mit nackten Rohren und halb verputzten Ziegeln vordringt. Claire fühlt sich an zahllose Partys aus ihrer Collegezeit erinnert. Nur die Dimensionen – die Breite der Gänge und die Höhe der Decken – stimmen nicht. Diese alten Städte im amerikanischen Westen gehen wirklich verschwenderisch mit dem Platz um.
    An der Tür zögert Pasquale. »È qui lei?« Ist sie hier?
    Shane blickt von seinem Telefon auf. »Forse. C’è una festa per gli attori.« Vielleicht. Das ist eine Party für die Schauspieler. Shane wendet sich wieder seinem Handy zu und schickt eine SMS an Saundra: Können wir reden? Bitte? Ich weiß jetzt, was für ein Trottel ich war.
    Pasquale fixiert das Haus, in dem Dee sein könnte. Er nimmt den Hut ab, streicht sich das Haar glatt und steigt die ersten Stufen hinauf. Oben auf dem Treppenabsatz hilft Claire dem erschöpften Michael Deane bei den letzten Schritten. In der erste Etage gibt es drei Wohnungen, und sie gehen nach hinten zur einzigen offenen Tür, in die ein Weinkrug ge klemmt ist.
    Diese rückwärtige Wohnung ist groß und auf die gleiche primitive Weise wie der Rest des Hauses liebevoll

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