Schöne Ruinen
gestaltet. Ihre Augen brauchen einen Moment, bis sie sich an das Kerzenlicht gewöhnt haben – es ist ein zweistöckiges, offenes Loft mit hohen Decken. Der Raum ist ein Kunstwerk oder ein Müllhaufen – voller alter Schulspinde, Hockeyschläger und Zeitungskästen – um eine geschwungene Treppe aus altem Holz, die in der Luft zu schweben scheint. Bei genauerem Hinsehen erkennen sie, dass die Treppe von drei Kabeln gehalten wird.
»Das ganze Apartment ist mit Fundstücken eingerichtet«, erklärt der Theatertürsteher Keith, der unmittelbar nach ihnen eintrifft. Er hat dünnes Stachelhaar und schmerzhaft aussehende Knöpfe in den Lippen, am Hals, an den Ohrenspitzen und an der Nase, dazu Piratenringe in den Ohrläppchen. Er hat auch schon an Produktionen der Theater Arts Group von Northern Idaho mitgewirkt, erzählt er, aber er ist vor allem Dichter, Maler und Videokünstler. (Mehr nicht, fragt sich Claire. Wie wär’s mit Ausdruckstänzer? Sandbildhauer?)
»Videokünstler?« Michaels Interesse ist erwacht. »Ist Ihre Kamera in der Nähe?«
»Die habe ich immer dabei.« Keith zieht eine einfache, kleine Digitalkamera aus der Tasche. »Mein Leben ist meine Doku.«
Pasquale schaut sich im Partytreiben um, aber von Dee ist nichts zu sehen. Er beugt sich zu Shane, um ihn um Hilfe zu bitten, doch sein Übersetzer starrt hilflos auf Saundras Antwort: Du merkst erst JETZT , dass du ein Trottel bist? Lass mich in Ruhe.
Keith hält die suchenden Blicke von Pasquale und Michael für Neugier und fängt an, alles zu erklären. Der Designer des Apartments ist ein Vietnamveteran, der letzten Monat in der Zeitschrift Dwell vorgestellt wurde. »Sein Konzept ist, dass jede Designform, ausgehend von ihrem jugendlichen Wesen, einen natürlichen Reifeprozess durchmacht und dass wir viel zu oft Designs ausrangieren, gerade wenn sie anfangen, ihr älteres, interessanteres zweites Wesen auszubilden. Zwei alte Hockeyschläger – wen interessiert das. Aber zu einem Stuhl umgebaute Hockeyschläger? Das macht doch was her.«
»Einfach herrlich.« Ergriffen lässt Michael den Blick durch den Raum wandern.
Die Theaterleute sind noch nicht hier. Bisher besteht die Party nur aus zwanzig Zuschauern mit schwarzer Brille und Hippiesandalen, die sich leise unterhalten und gelegentlich ein vorsichtiges Lachen von sich geben. Nacheinander neh men sie die merkwürdigen Reisenden der Deane-Party in Augenschein. Claire kommt das Publikum vertraut vor, ein wenig ungeschliffener, doch nicht viel anders als sonst bei Afterpartys. Auf einem Metalltisch, der aus der Tür eines alten Lastenaufzugs gebaut wurde, sind Wein und Snacks aufgestellt; in einer kleinen Baggerschaufel warten Bier und Eis. Erleichtert stellt Claire bei ihrem Besuch im Bad fest, dass die Toilette eine richtige Toilette ist und nicht etwa ein alter Bootsmotor.
Schließlich tröpfeln die Schauspieler und Bühnentechniker herein. Die Kunde vom Erscheinen des großen Michael Deane hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet, nacheinander kommen die Ehrgeizigen herüber und erwähnen beiläufig ihre Auftritte in Direct-to- DVD -Filmen, die in Spokane gedreht wurden, neben Größen wie Cuba Gooding Jr., Antonio Banderas oder John Travoltas Schwester. Alle, die Claire kennenlernt, scheinen Künstler der einen oder anderen Art zu sein: Schauspieler, Musiker, Maler, Grafiker, Ballettlehrer, Schriftsteller, Bildhauer und mehr Töpfer, als eine Stadt wie diese überhaupt ernähren kann. Selbst die Schullehrer und Anwälte treten in Theateraufführungen auf, spielen in Bands oder meißeln an Eisblöcken herum. Michael ist von allem fasziniert. Claire wundert sich über seine Energie und seine echte Neugier. Außerdem hat er schon sein drittes Glas Wein in der Hand – so viel hat er in ihrem Beisein noch nie getrunken.
Eine attraktive ältere Frau in einem leichten Sommerkleid, deren tiefe Sonnenanbetungsfalten das exakte Gegenstück zu Michaels glatter Haut sind, beugt sich vor und berührt ihn sogar an der Stirn. »Meine Güte, was für ein tolles Gesicht.« Als wäre es ein von ihm geschaffenes Kunstwerk.
»Vielen Dank«, antwortet Michael, denn so ist es tatsächlich.
Die Frau stellt sich als Fantom »mit F« vor und berichtet, dass sie kleine Skulpturen aus Seife macht, die sie auf Handwerksausstellungen und Märkten verkauft.
»Die würde ich gerne sehen«, sagt Michael. »Sind hier alle Künstler?«
»Ich weiß.« Fantom kramt in ihrer Tasche herum. »Ein bisschen langweilig,
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