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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Walter
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Ring mit einem rötlichen Stein. Pasquale hielt ihn in der Hand, während sich die Frau bereits entfernte. Plötzlich bemerkte er, dass seine Mutter ihn beobachtete und offenbar darauf wartete, was er tun würde. »Signora!«, rief er und lief der Frau nach. Die Frau blieb stehen, nahm den Ring, bedankte sich, tätschelte seinen Kopf und gab ihm eine Fünfzigliremünze. Nach seiner Rückkehr sagte seine Mutter: »Hoffentlich hättest du das auch getan, wenn ich dich nicht gesehen hätte.« Pasquale war sich nicht sicher, was sie meinte. »Manchmal«, erklärte sie, »ist das, was wir tun wollen und was wir tun müssen, nicht das Gleiche.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Pasqua, je kleiner der Abstand zwischen dem, was du dir wünschst, und dem, was richtig ist, desto glücklicher wirst du sein.«
    Er konnte seiner Mutter nicht verraten, warum er den Ring nicht sofort zurückgegeben hatte: Er hatte gedacht, wenn er einer Frau einen Ring überreichte, musste er sie heiraten und seine Eltern verlassen. Als Siebenjähriger hatte Pasquale die Mahnung seiner Mutter nicht begriffen, doch jetzt war ihm klar, was sie gemeint hatte: Das Leben war viel leichter, wenn Absichten und Wünsche immer miteinander in Einklang standen.
    Als die Sonne endlich über die Klippen lugte, wusch sich Pasquale am Becken in seinem Zimmer und schlüpfte in seinen alten, steifen Anzug. Unten fand er seine Tante Valeria in der Küche, die auf ihrem Lieblingsstuhl saß.
    Sie schielte kurz nach seinem Anzug und seufzte. »Ich kann nicht zur Trauermesse gehen. Ich bringe es nicht fertig, dem Priester gegenüberzutreten.«
    Pasquale äußerte sein Verständnis. Dann schlüpfte er hinaus, um auf der Terrasse zu rauchen. Nach dem Auslaufen der Fischerboote fühlte sich der Ort leer an, nur die Katzen streunten auf der Piazza herum. Die Sonne hatte den leichten Morgendunst noch nicht vertrieben, und die Wellen platschten leblos auf die flachen Felsen.
    Er hörte Schritte auf der Treppe. Wie lange hatte er auf einen amerikanischen Gast gewartet? Und jetzt hatte er sogar zwei. Schwer näherten sich Schritte auf der Holzterrasse, und gleich darauf stand Alvis Bender neben ihm. Alvis zündete sich seine Pfeife an und drehte den Hals in beide Richtungen. Er rieb sich über die leichte Beule an der Stirn. »Meine Kämpfertage sind vorbei, Pasquale.«
    »Bist du verletzt?«, fragte Pasquale.
    »Nur mein Stolz.« Alvis zog an der Pfeife. »Schon seltsam.« Rauch umhüllte ihn. »Früher bin ich hergekommen, weil es ruhig war und ich dachte, ich kann der Welt aus dem Weg gehen und schreiben. Aber damit ist es jetzt anscheinend vorbei.«
    Pasquale musterte das Gesicht seines Freundes. Es war so offen, so unverkennbar amerikanisch, genau wie das von Dee und Michael Deane. Er war sich sicher, einen Amerikaner überall an dieser Eigenschaft erkennen zu können – an dieser Offenheit, diesem festen Glauben an das Mögliche , einer Eigenschaft, die nach seiner Auffassung selbst den jüngsten Italienern fehlte. Vielleicht lag es am Altersunterschied der beiden Länder – Amerika mit seiner überschäumenden Jugend, mit seinen Autokinos und Cowboyrestaurants; Italien mit seiner endlos schrumpfenden Fläche, mit den Gebeinen untergegangener Generationen und den Relikten eines versunkenen Weltreichs.
    Das erinnerte ihn an Alvis Benders These, dass Geschichten wie Nationen waren – Italien ein großes Versepos, Großbritannien ein dicker Roman, Amerika ein reißerischer Film in Technicolor. Und auch Dee Morays Äußerung fiel ihm ein, dass sie jahrelang auf den Beginn ihres Films gewartet und beim Warten fast ihr Leben versäumt hatte.
    Alvis zündete wieder seine Pfeife an. »Lei è molto bella.« Sie ist sehr schön.
    Pasquale drehte sich zu Alvis um. Der Amerikaner hatte natürlich von Dee Moray gesprochen, aber Pasquale hatte gerade an Amedea gedacht. »Sì.« Auf Englisch fügte er hinzu: »Alvis, heute ist Totenmesse für meine Mutter.«
    So groß war die Freundschaft und das Wohlwollen der beiden füreinander, dass sie manchmal bei ganzen Unterhaltungen die Sprache des anderen benutzten. »Sì, Pasquale. Dispiace. Devo venire?«
    »Nein danke. Ich gehe allein.«
    »Posso fare qualcosa?«
    »Ja«, erwiderte Pasquale. Unten sah er, wie Tomasso in die Bucht tuckerte. Höchste Zeit. Pasquale schaute Alvis in die Augen und sprach Italienisch, um sich möglichst deutlich auszudrücken. »Wenn ich heute Abend nicht zurückkomme, musst du etwas für mich

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