Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Walter
Vom Netzwerk:
präparierte Leiche gestoßen war und wir deshalb neuerdings Befehl hatten, Bestattungsarbeiten zu vermeiden. So musste ich auf das vielleicht wärmste, trockenste und sauberste Paar Socken in ganz Europa verzichten und weitere drei Kilometer in diesen sumpfigen, kratzigen Biestern im vollen Puppenstadium marschieren. Und das gab mir den Rest. Ich war fertig. Ich sagte zu Richards: »Heute Abend mach ich es. Selbstverstümmelung. Ich knall mir den Fuß weg.«
    Richards hörte meinem Gejammer schon seit Tagen zu und dachte, dass es bloß Gerede war, dass ich eher hätte davonschweben können, als mir in den Fuß zu schießen. »Erzähl keinen Stuss«, antwortete er. »Der Krieg ist vorbei.«
    Das war ja das Perfekte daran, erklärte ich ihm. Wer würde jetzt noch Verdacht schöpfen? Zu einem früheren Zeitpunkt in meinem Krieg hätte ein Fußschuss unter Umständen nicht genügt, um heimgeschickt zu werden, doch jetzt, wo sich das Ganze dem Ende zuneigte, standen meine Chancen gut. »Ich mach es.«
    Richards lenkte ein. »Na schön. Mach es. Hoffentlich verblutest du im Bau.«
    »Der Tod ist besser als diese Schmerzen.«
    »Dann vergiss den Fuß und schieß dir in den Kopf.«
    Kurz vor einem Dorf stoppten wir und schlugen unser Lager im Schutt einer alten Scheune an einem weinbewachsenen Hügel auf. Richards und ich gingen an einem kleinen Felsvorsprung auf Posten, der uns als Deckung diente. Dort saß ich und erörterte mit Richards, in welchen Teil meines Fußes ich mir schießen sollte, so gelassen, als würde ich mich mit ihm übers Mittagessen unterhalten. Plötzlich drang von unten ein Scharren herauf. Wir sahen uns schweigend an. Dann packte ich meinen Karabiner, schob mich hinaus auf den Felsvorsprung und ließ meinen Blick über die Straße wandern, bis er auf einer näher kommenden Gestalt landete …
    Ein Mädchen? Nein. Eine Frau. Jung. Neunzehn? Zwei undzwanzig? Dreiundzwanzig? Im Dämmerlicht konnte ich das nicht genau erkennen, nur dass sie hübsch war und dass sie anscheinend allein auf dieser engen Staubstraße dahinstrebte, das braune Haar hochgesteckt, das Gesicht ums Kinn herum schmal, die Wangen erhitzt und die Augen umrahmt von schwarzen, wie von zwei Fahnen Ölrauch umwölkten Wimpern. Sie war klein, doch in dem ramponierten Schienbein Italiens waren alle Menschen klein. Ausgemergelt wirkte sie nicht. Sie trug ein Tuch über ihrem Kleid, und es quält mich, dass ich nicht mehr genau weiß, welche Farbe dieses Kleid hatte. Ich glaube, es war blassblau mit gelben Sonnenblumensprenkeln, doch mit Sicherheit kann ich es nicht sagen, nur dass ich es so im Kopf habe (und es verdächtig finde, dass jede Frau im Europa meiner Erinnerung, jede Hure, Großmutter und Obdachlose, der ich begegnet bin, dieses blassblaue Kleid mit Sonnenblumensprenkeln trägt).
    »Halt«, rief Richards. Ich musste lachen. Dort unten auf der Straße war eine Erscheinung zu sehen, und Richards fiel dazu nicht mehr ein als Halt ? Hätte mich mein Verstand getragen statt meiner geschundenen Füße, hätte ich ihn auf das weitaus existenziellere Wer da? des Barden hinlenken, und wir hätten den ganzen Hamlet für die Unbekannte spielen können.
    »Nicht schießen, liebe Amerikaner«, rief die Frau in makellosem Englisch. Weil sie nicht wusste, woher dieses »Halt« gekommen war, wandte sie sich zuerst an die Bäume zu beiden Seiten und dann an den kleinen Felsvorsprung am Hang über ihr. »Ich gehe nur zu meiner Mutter.« Sie hob die Hände hoch, und wir standen auf, die Gewehre immer noch im Anschlag. Sie nahm die Arme wieder herunter und erklärte, dass sie Maria hieß und aus dem Dorf gleich hinter dem Hügel kam. Trotz eines leichten Akzents war ihr Englisch besser als das der meisten Kameraden in unserem Zug. Sie lächelte. Erst wenn man so ein Lächeln sieht, kann man ermessen, wie sehr man es vermisst hat. Ich konnte nur noch daran denken, wie lange es schon her war, dass mir zum letzten Mal eine strahlende junge Frau auf einer Landstraße begegnet war.
    »Die Straße ist geschlossen. Du musst außenrum gehen.« Mit seinem Gewehr deutete Richards in die Richtung, aus der sie gekommen war.
    »Ja, gut.« Sie fragte, ob die Straße im Westen offen war. Richards bejahte. »Danke.« Sie machte sich auf den Rückweg. »Gott segne Amerika.«
    »Warte«, brüllte ich, »ich begleite dich.« Ich zog mir das wollene Helmfutter herunter und klatschte mir die Haare mit Spucke glatt.
    »Mach keinen Blödsinn«, mahnte Richards.
    Mit

Weitere Kostenlose Bücher