Schöne Ruinen
unterscheiden: ich ein hochaufgeschossener Flachskopf aus Wisconsin und Mitinhaber der väterlichen Autohandlung, er ein hochaufgeschossener Flachskopf aus Cedar Falls in Iowa und zusammen mit seinen Brüdern Inhaber einer Versicherungsfirma. Aber während ich in der Heimat nur eine Reihe verflossener Freundinnen, ein Stellenangebot als Englischlehrer und zwei dicke Neffen hatte, hatte Richards eine liebende Frau und einen Sohn, die sehnlichst auf seine Rückkehr warteten.
Im Italien des Jahres 1944 war keine Information zu unbedeutend für Richards und mich. Wir meldeten, wie viele Laib Brot die Deutschen requiriert und welche Decken die Partisanen mitgenommen hatten, und ich schrieb zwei Absätze über einen armen deutschen Soldaten mit Verstopfung, den das Mittel einer alten Hexe aus Olivenöl und gemahlenem Knochenmehl kuriert hatte. So eintönig diese Pflichten auch waren, wir legten uns voll ins Zeug, denn die Alternative hieß, Leichen mit Kalk zu bestreichen und zu beerdigen.
Offensichtlich waren am Ende meines Kriegs bedeutendere Kräfte im Spiel (wir hörten Gerüchte über Albtraumlager und die Aufteilung der Welt durch die Reißbrettköpfe), doch für Richards und mich bestand der Krieg aus nassen, strapaziösen Märschen über Schotterstraßen und Berghänge zu ausradierten Dörfern und kurzen Befragungen verdreckter Bauern mit toten Augen, die uns um Essen anbettelten. Im November waren die Wolken gekommen und hatten uns bis März einen einzigen langen Regen beschert. In diesem März marschierten wir um des Marschierens willen, nicht aus irgendwelchen taktischen Gründen, sondern weil eine nasse Armee, die nicht marschiert, mit der Zeit riecht wie ein Lager voller Landstreicher. Inzwischen waren die unteren zwei Drittel Italiens befreit, wenn man darunter aufgerieben von Armeen versteht, die nur die schönsten Gebäude bombardierten, Denkmäler und Kirchen, als wäre die Ar chitektur der wahre Feind. Nicht mehr lang, und auch der Norden war ein befreiter Schutthaufen. Wir marschierten diesen Stiefel hinauf wie ein Strumpf das Bein einer Frau.
Bei einem dieser Routineeinsätze fing ich an, mir auszumalen, wie ich mich erschoss. Und während ich abwägte, in welchen Körperteil ich die Kugel jagen sollte, begegnete ich der Frau.
Wir waren auf einem Eselspfad bergauf gestapft, zwei Furchen, die durch Unkraut führten. Auf den Gipfeln der Anhöhen und in den Tälern tauchten Dörfer auf, hungrige alte Weiber mit Knopfaugen hockten zusammengesunken an Straßen, und aus den Fenstern zerstörter Häuser spähten, umrahmt von zerborstenen Läden wie in modernen Porträts, Kinder, die graue Fetzen schwenkten und uns bettelnd die Hände entgegenstreckten: »Dolci, per favore. Süße, Americano?«
Über diese Dörfer war ein Sandsturm hinweggefegt, der bei seiner Ankunft und noch einmal bei seinem Abzug alles zerschmettert hatte. Nachts campten wir am Rand dieser zerklüfteten Käffer in windschiefen Scheunen, in den Skeletten verlassener Bauernhöfe, in den Ruinen alter Reiche. Ehe ich am Abend in meinen Mumienschlafsack kroch, schlüpfte ich vorsichtig aus den Stiefeln und zog die Socken aus, die ich anschließend beschimpfte, anflehte und voller Verzweiflung an einen Zaunpfahl, ein Fensterbrett oder eine Zeltstrebe hängte. Jeden Morgen erwachte ich voller Zuversicht, streifte die trockenen Socken über meine trockenen Füße, doch schon bald setzte wieder eine chemische Reaktion ein und verwandelte meine Füße in feuchte, von Larven befallene Geschöpfe, die sich von meinem Blut und meinen Knochen ernährten. Unser Ausrüstungssergeant, ein mitfühlender junger Mann von zierlicher Statur, der nach Richards’ Meinung ein Auge auf mich geworfen hatte (»Weißt du was?«, gestand ich Richards, »wenn er meine Füße hinkriegt, dann blas ich ihm den Zapfenstreich«), besorgte mir ständig neue Socken und Fußpuder, doch die verräterischen Geschöpfe fanden immer wieder hinein. Jeden Morgen streute ich Puder in die Stiefel, zog neue, trockene Socken an, fühlte mich besser und machte einen Schritt, doch dann nagten schon wieder räuberische Blutegel an meinen Zehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mich aufgefressen hatten.
An dem Tag, als ich der Frau begegnete, hatte ich die Schnauze voll und wollte endlich handeln: das unbeabsichtigte Auslösen eines Schusses, genau durch einen meiner abtrünnigen Hufe. Man würde mich zurück nach Madison zu meinen Eltern schicken – ein fußloser Invalide, der
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