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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Walter
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Tränen in den Augen drehte ich mich zu ihm um. »Gottverdammt, Richards, ich bring die Kleine nach Hause!« Natürlich hatte Richards recht. Das war Blödsinn. Den Posten zu verlassen war Fahnenflucht, doch in diesem Moment hätte ich in Kauf genommen, den Rest meines Krieges im Bau zu schmach ten, wenn ich diese Frau nur sechs Schritte begleiten durfte.
    »Bitte, lass mich gehen«, flehte ich. »Ich geb dir alles dafür.«
    »Deine Luger«, antwortete Richards ohne Zögern.
    Mir war klar, dass Richards das verlangen würde. Auf diese Luger war er so scharf wie ich auf trockene Socken. Er wollte sie als Souvenir für seinen Sohn. Und ich konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen. Hatte ich nicht selbst an den Sohn gedacht, den ich nicht hatte, als ich die Luger auf einem kleinen Markt bei Pietrasanta erstand? Sohnlos, wie ich nun mal war, hatte ich mir vorgestellt, die Waffe meinen launischen Freundinnen und meinen blöden Neffen zu zeigen. Vielleicht nach zu vielen Whiskeys, so hatte ich es mir ausgemalt, würde ich widerstrebend von meinem Krieg erzählen und plötzlich die rostige Luger aus dem Schreibtisch zerren, damit die faulen Scheißer kapierten, wie ich sie einem verrückten Deutschen entrissen hatte, der sechs von meinen Männern getötet und mir in den Fuß geschossen hatte. Die gesamte Schwarzmarktökonomie deutscher Kriegstrophäen beruhte auf diesem Schwindel: flüchtende, hungernde Deutsche, die ihre kaputten Waffen und ihre Rangabzeichen gegen Brot an hungernde Italiener verschacherten, und die hungernden Italiener, die sie ihrerseits als Trophäen an Amerikaner wie Richards und mich verkauften, die auf ein Beweisstück für ihren Heldenmut scharf waren.
    Leider kam Richards nie dazu, die Luger seinem Jungen zu schenken, denn sechs Tage bevor wir nach Hause verfrachtet wurden – ich, um mir die Baseballspiele der Cubs im Radio anzuhören, er, um seine Frau und seinen Sohn in die Arme zu schließen – starb Richards an einer unrühmlichen Blut vergiftung, die er sich nach einer Blinddarmopera tion im Feldlazarett geholt hatte. Ich sah ihn nicht einmal mehr, nachdem er wegen Fiebers und Unterleibsschmerzen eingeliefert worden war, und wurde nur von unserem schwachsinnigen Leftenant informiert (»Ach, Bender. Ja, also. Richards ist tot«), dass mein letzter und bester Freund in meinem Krieg gestorben war. Und auch wenn damit das Ende von Richards’ Krieg gekommen war, habe ich noch einen Epilog zu bieten. Ein Jahr später fuhr ich durch Cedar Falls in Iowa, parkte vor einem Bungalow mit einer amerikanischen Flagge auf der Backsteinterrasse, nahm die Mütze ab und klingelte an der Tür. Richards’ Frau war klein und kastenförmig, und ich erzählte ihr die beste Lüge, die ich mir ausdenken konnte: dass er mit ihrem Namen auf den Lippen gestorben war. Und ich gab dem kleinen Jungen die Schachtel mit meiner Luger darin und erklärte ihm, dass sein Vater sie einem Deutschen abgenommen hatte. Und beim Anblick dieser rotbraunen Haarwirbel sehnte ich mich nach einem eigenen Sohn, nach dem Erben, den ich nie haben würde, nach jemandem, der diesem schon halb verschwendeten Leben einen Sinn geben konnte. Und als Richards’ umwerfender Junge fragte, ob sein Dad »tapfer im Krieg« war, antwortete ich vollkommen aufrichtig: »Dein Vater war der tapferste Mann, den ich je gekannt habe.«
    Und das stimmte auch, denn an dem Tag, als ich der Frau begegnete, sagte der tapfere Richards: »Geh einfach. Behalt deine Luger. Ich deck dich. Aber nachher musst du mir alles erzählen.«
    Wenn ich mich in diesen Bekenntnissen von Furcht und Unbehagen als Menschen porträtiert habe, dem es an Tapferkeit fehlt, so kann ich jetzt Beweise für mein ritterliches Herz vorlegen. Ich hatte nicht die Absicht, der Frau auch nur ein Härchen zu krümmen. Und ich wollte, dass auch Richards das wusste: dass ich mein Leben und meine Ehre aufs Spiel setzte, nicht etwa um meinen Stutzen zu putzen, sondern einfach um mit einer Frau einen nächtlichen Spaziergang auf einer Landstraße zu machen und wieder etwas wie Normalität zu empfinden.
    »Richards«, beteuerte ich, »ich werde sie nicht anfassen.«
    Er merkte wohl, dass ich es ernst meinte, denn er wirkte gequält. »Dann lass mich gehen.«
    Ich klopfte ihm auf die Schulter, nahm das Gewehr und lief ihr nach. Sie ging ziemlich schnell, und als ich sie einholte, war sie an den Straßenrand ausgewichen. Aus der Nähe betrachtet, war sie älter, als ich vermutet hatte, vielleicht

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