Schöne Ruinen
»Ich bin froh … du bist nicht krank.«
»Danke, Pasquale. Ich auch.« Erneut wurden ihre Augen feucht. »Irgendwann komme ich wieder und besuch dich mal. Ist das in Ordnung?«
»Ja.« Er rechnete keine Sekunde damit, sie wiederzusehen.
»Wir können wieder rauf zu dem Bunker wandern und uns die Bilder anschauen.«
Pasquale lächelte nur. Er konzentrierte sich, um die Worte zu finden. »Am ersten Abend sagst du was … wir wissen nicht, wann unser Leben ist Anfang, ja?«
Dee nickte.
»Mein Freund Alvis Bender, der schreibt Buch, das du liest, sagt er mir einmal etwas so ähnlich. Er sagt, unser Leben ist eine Geschichte. Aber alle Geschichten gehen in andere Richtung, ja?« Seine Hand schoss nach links. »Du.« Und die andere nach rechts. »Ich.« Die Worte entsprachen nicht dem, was er ausdrücken wollte, doch sie nickte, als hätte sie verstanden.
»Aber manchmal … wir sind wie Leute im selben Zug, fahren in gleiche Richtung. Gleiche Geschichte.« Er legte die Hände zusammen. »Und ich denke … ist schön, ja?«
»O ja.« Auch sie legte demonstrativ die Hände zusammen. »Danke, Pasquale.« Ihre rechte Hand sank auf Pasquales Brust, und sie starrten sie beide an. Dann zog sie sie zurück, und Pasquale wandte sich zum Gehen. Er musste all seinen Stolz aufbieten, um ihr einen geraden Rücken zu zeigen wie den Schild des Zenturios, zu dem er am Morgen fast geworden wäre.
»Pasquale!«
Er drehte sich um, und sie lief durch den Gang und küsste ihn erneut, auf die Lippen sogar, doch es war überhaupt nicht wie der Kuss, den sie ihm auf der Terrasse seines Hotels gegeben hatte. Der Kuss damals war wie der Anfang von etwas gewesen, wie das Gefühl, dass jetzt sein Leben begann. Heute war es ein Ende, der schlichte Abgang einer Nebenfigur. Pasquales Abgang.
Sie wischte sich die Augen ab. »Hier.« Sie hielt ihm ein Polaroidfoto von ihr und der Dunkelhaarigen hin. »Zur Erinnerung.«
»Nein. Gehört dir.«
»Ich brauche es nicht«, entgegnete sie. »Ich hab doch die anderen.«
»Eines Tages brauchst du.«
»Ich sag dir was: Wenn ich alt bin und mir die Leute nicht glauben, dass ich mal beim Film war, dann hol ich es mir. Okay?« Sie drückte ihm das Bild in die Hand und wandte sich ab. Sie tapste durch den Gang und überquerte die Schwelle. Bedächtig und still wie eine Mutter, die sich aus dem Zimmer ihres schlafenden Kindes schleicht, zog sie die Tür zu.
Pasquale starrte ihr nach. Er hatte sich nach der glamourösen Welt der Amerikaner gesehnt, und wie ein Traum war sie in sein Hotel gekommen, doch jetzt war wieder alles, wo es hingehörte, und er fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, nie einen Blick hinter diese Tür zu erhaschen.
Schlurfend stieg Pasquale die Treppe hinunter und trat vorbei am Empfangschef hinaus zu Tomasso, der rauchend an der Wand lehnte. Er zog sich die Mütze tief in die Augen und zeigte Tomasso das Foto von Dee und der anderen.
Nach einem Blick darauf zuckte Tomasso eine Schulter. »Bah.«
Die beiden Männer machten sich auf den Weg zum Hafen.
12
Die zehnte Absage
Unlängst
Los Angeles, Kalifornien
V or dem Sonnenaufgang, vor den guatemaltekischen Gärtnern, vor den Haien, den Benz-Karossen und der Gentrifizierung des amerikanischen Geistes – spürt Claire eine Hand auf der Hüfte.
»Nein, Daryl«, murmelt sie.
»Wer?«
Sie öffnet die Augen und sieht einen Hellholzschreibtisch, einen Flachbildfernseher und die Art von Bild, wie sie in Hotelzimmern hängt … denn sie ist in einem Hotelzimmer.
Sie liegt auf der Seite, und die Hand auf ihrer Hüfte kommt von hinten. Sie schaut nach unten und erkennt, dass sie noch angezogen ist; also hatten sie wenigstens keinen Sex. Sie dreht sich um und blickt in die großen, feuchten Augen von Shane Wheeler. Noch nie ist sie in einem Hotelzimmer neben einem Mann erwacht, den sie gerade erst kennengelernt hat, daher ist sie nicht ganz sicher, was in so einer Situation zu sagen ist. »Hi«, bringt sie schließlich hervor.
» Daryl. Ist das dein Freund?«
»Vor zehn Stunden war er’s noch.«
»Der mit den Stripclubs?«
Gutes Gedächtnis. »Ja.« Irgendwann in dem betrunkenen Austausch letzte Nacht hat sie ihm anvertraut, dass sich Daryl den ganzen Tag Online-Pornos ansieht, am Abend Stripclubs besucht und nur lacht, wenn sie andeutet, dass das respektlos ihr gegenüber sein könnte. Hoffnungslos – so hat sie die Beziehung mit ihm beschrieben. Als sie jetzt neben Shane liegt, empfindet Claire eine andere Art von
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