Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Süden nach Sewastopol auf der Krim, dann auf dem Seeweg westwärts nach Konstanza in Rumänien und von dort aus Richtung Norden zurück nach Warschau. Sie richteten sich wieder ein, nur um im Zuge der Depression den dritten Zusammenbruch zu erleben; das vierte Mal besorgte der Zweite Weltkrieg. Das fünfte und letzte Mal war dann kein politisches Ereignis, sondern Vaters Krebserkrankung. Die litauischen Wurzeln meiner Eltern spielten in vieler Hinsicht eine – teils wichtige, teils nervtötende – Rolle. Beispielsweise versuchte das gerade frisch vereinigte Polen 1919, die alte dynastische Union wiederherzustellen. Es erhielt eine Abfuhr, besetzte aber das südöstliche Litauen rund um die Hauptstadt Vilnius, nicht jedoch Mutters Geburtsort. Ein Waffenstillstand war in Kraft getreten, doch ein Friedensvertrag wurde nie unterzeichnet. Briefe von Mutters älterem, in Litauen lebendem Bruder mussten über einen Geschäftspartner in der damaligen Freien Stadt Danzig geleitet werden. Weit gravierender war die Tatsache, dass Mutter durch den Waffenstillstand in Polen zur »feindlichen Ausländerin« wurde – zur illegalen Immigrantin. Lediglich Bestechungsgelder bewahrten sie davor, in ein Land abgeschoben zu werden, an das sie sich nicht erinnern konnte und das weitab von ihrer Familie und ihren Freunden lag. Dagegen brachte unser späterer Umzug nach Paris uns unerwartet einen erfreulichen Status. Wer in Szawle statt in Warschau geboren war, befand sich in Sicherheit. Zwischen den Kriegen waren in Polen lebende Juden litauischer Abstammung theoretisch polnische Staatsbürger, wurden in Wahrheit jedoch in doppelt unangenehmer Hinsicht als Fremde angesehen. Ein Umzug nach Frankreich ersetzte diese Rolle eines zweifachen Fremden durch einen dritten erwünschten Modus, und die Emigration nach Amerika führte zu einem vierten, der noch einmal ganz anders war.
Was mich angeht, so lebte es sich in Frankreich und Amerika weit besser als in Polen, doch die Bürde, ein Ausländer zu sein, blieb und ging von den Ländern auch auf Gebiete der Wissenschaft über.
Onkel Szolem
Erinnern wir uns an die Widmung dieses Buches. Neben meinen Eltern und meiner Frau ist Onkel Szolem einer der vier Menschen, die den tiefsten und umfassendsten Einfluss auf mein Leben hatten. Auch er wurde in Warschau geboren, wuchs dort auf und traf die Liebe seines Lebens – die Mathematik –, wenn auch früher als ich.
Als junger Mann hatte er die ersten Universitätsseminare besucht und sich mit »modernen« Vorstellungen vertraut gemacht, die damals im Rahmen der »polnischen Mathematik« zusammengeführt wurden. Während des auf die Sowjetrevolution folgenden Bürgerkriegs verbrachte er kurze Zeit in Charkow, was sich stark auf sein weiteres Leben – und später auf meines – auswirken sollte. Er besuchte dort die Vorlesungen des Mathematikers Sergei Bernstein (1880–1968), der gerade in Paris einen Doktortitel erworben hatte, und verliebte sich unsterblich in die Arbeiten Poincarés und seiner die Pariser Szene dominierenden geistigen Erben. Zurück in Warschau wurde er Zeuge, wie die polnische Mathematik sich zu einem extrem abstrakten Gebiet entwickelte, fühlte sich davon abgestoßen und ging nach Frankreich. Ein Flüchtling, den eine Ideologie antrieb, die fast rein intellektuell genannt werden kann.
Die Tatsache, dass dann meine Eltern als wirtschaftliche und politische Flüchtlinge folgten und sich Szolem in Frankreich anschlossen, rettete uns das Leben.
Jahre später hatte Szolem an einer Art »Ehrenwand« seines Pariser Arbeitszimmers ein Foto seines Mentors Jacques Hadamard hängen, das dieser ihm als seinem »Sohn im Geiste« gewidmet hatte. Hadamard hatte den größten Teil seines Arbeitslebens als Professor am Collège de France zugebracht, einer alten und berühmten Institution für Graduierte. 1937 gelang es Szolem, sein Nachfolger auf diesem Lehrstuhl zu werden. 1973 wurde Szolem in der Akademie der Wissenschaften auf den Lehrstuhl berufen, den der große Wissenschaftler Henri Poincaré und dann lange Zeit Hadamard besetzt hatten, für kurze Zeit gefolgt von Paul Lévy (der zum passenden Zeitpunkt vorgestellt werden wird).
Wie brillant Szolem war und wie rückhaltlos man ihm Anerkennung zollte, ist einem Brief zu entnehmen, den Marcel Henri Paul Jouhandeau am 28.August 1924 an Max Jacob schrieb – eine sehr bekannte Persönlichkeit der französischen Literatur an eine andere.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
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