Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Foto, ein Bild zeigt sie als Löwin, eine abgezehrte, harte Kämpferin für das Überleben der Familie während des Orkans des Zweiten Weltkriegs, das dritte schließlich aus dem Jahr 1962 präsentiert sie als entspannte Großmutter.
Geboren wurde Mutter in einer recht großen Stadt mit dem polnischen Namen Szawle, die nordwestlich der Hauptstadt Vilnius im heutigen Litauen liegt und Śiauliai heißt. Als Kind lebte sie in St.Petersburg, der Hauptstadt des russischen Reiches, zu dem damals auch das Großherzogtum Litauen gehörte. Ihre Familie zog weiter nach Warschau, unter anderem weil meine Großmutter wegen der feuchten und frostigen Winter höher im Norden krank geworden war.
Mutters Großvater väterlicherseits, geboren kurz nach Napoleons katastrophalem Eroberungsfeldzug gegen Russland, hatte einen Hang zur Kühnheit – als junger Mann war er von zu Hause fortgegangen und nach St.Petersburg marschiert. Schließlich kehrte er aber zurück, um eine Familie zu gründen. Er hatte bemerkenswert fortschrittliche Ideen. Wie mehrere über die ganze Welt verstreute Cousins von Mutter bestätigten, bestand er als einer der Ersten darauf, dass alle seine Enkelinnen eine richtige Ausbildung bekommen und Ärztinnen werden sollten. Mit 94 Jahren stürzte er beim Reiten vom Pferd und starb. Hoch zu Ross sah er zwar aus wie jeder andere Ghettobewohner, doch Russland regierte seine Juden in sehr unterschiedlicher Weise. Er hatte einen sehr reichen Mann namens Sergei Juljewitsch Witte kennengelernt, hatte einen guten Eindruck gemacht und wurde mit der Verwaltung seiner Güter betraut. Sie standen in Briefkontakt, sogar noch um 1905, als sein früherer Arbeitgeber in den Grafenstand erhoben und Premierminister des Zaren geworden war.
Mutter gehörte zu den Menschen, die fünfmal zusehen mussten, wie um sie herum die Welt zusammenbrach, die sich jedoch wieder fingen und bald mit Volldampf weitermachten. Erst im hohen Alter konnte sie von den albtraumhaften Erlebnissen reden, die sie während ihrer besten Jahre für sich behalten hatte. Onkel Szolem wiederholte oft, sie habe »einen schwierigen Charakter gehabt … doch von Menschen mit starker Persönlichkeit sagt man das häufig«.
Zur Zeit der gescheiterten Revolution von 1905 in Russland war sie 20 Jahre alt; sie verschrieb sich nicht der Politik, sondern dem Studium. Sie war sehr sprachbegabt; ihr Jiddisch klang beinahe deutsch, dazu sprach sie fehlerlos Polnisch, Russisch und Deutsch, und wichtiger war noch, dass ihr Französisch immer besser wurde.
Sie besiegte das verhasste Quotensystem, indem sie die Eingangsprüfung der Medizinschule an der Reichsuniversität Warschau als Beste bestand, und gehörte damit zur Avantgarde – worauf sie stolz war. Das Studium der Hochschule musste sie ganz allein bewältigen. Das Neue Testament war Pflichtfach, und weil der Einband des Lehrbuchs mit einem großen Kreuz geschmückt war, musste sie es in braunes Papier einschlagen, ehe sie es ins Haus ihrer Eltern schmuggelte.
Sie entschied sich für Zahnmedizin, da die Tätigkeit einer Zahnärztin am besten mit der Mutterschaft zu vereinbaren war: keine nächtlichen Hausbesuche und weniger von den gefährlichen Bazillen in einem von schweren Epidemien heimgesuchten Teil der Welt. Vor der Zeit einer umfassenden Anästhesie hing der Ruf eines Zahnarztes – und speziell einer Zahnärztin – weitgehend davon ab, wie schnell die Zähne gezogen wurden, und ich erinnere mich an Mutters starke Hand und ihren kräftigen rechten Bizeps.
Dieses Foto zeigt mich zusammen mit meinem 15 Monate jüngeren Bruder Léon in Świder. Als Kinder waren wir nur selten getrennt, und natürlich stritten wir uns unaufhörlich. Dass ich einen solchen Bruder als gleichwertigen Sparringspartner hatte, gehört mit zu den besten Dingen in meinem Leben. Mit der Zeit wurden ein paar kleine Differenzen größer, er vollzog einige für ihn unvermeidliche Wendungen, und ich konnte nicht helfen, sie rückgängig zu machen. Aber – traurig, das sagen zu müssen – mich als Bruder zu haben mag wohl auch eine der schlimmsten Bürden in seinem Leben gewesen sein.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Diese Straßenszene, etwa zur gleichen Zeit aufgenommen wie das Foto der großen Abendrunde von 1930, zeigt links meine Mutter, die mich an der Hand hält. Bis ich alt, kahl und fett wurde, veränderte ich mich nicht sonderlich. Nach all diesen Jahren kann ich mich in Gedanken leicht in die Haut dieses kleinen Jungen
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