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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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versetzen: gemächlich, kein Dichter, aber aufmerksam und sorgfältig, und die Welt nehme ich so, wie sie ist.
    Mit dieser Straßenszene tritt auch Mutters jüngere Schwester Raya ins Geschehen, die meinen jüngeren Bruder Léon an der Hand hält. Raya wohnte ein paar Häuserblocks entfernt, sodass wir gefahrlos allein zu ihr gehen konnten. Sie hatte keine Kinder und war unsere stets verfügbare und eifrige »Ersatzmutter«. Beispielsweise kümmerte sie sich – sie war ebenfalls Zahnärztin – um das Gebiss ihrer Neffen. Für die Wartezimmer ihrer Praxen wählten die Schwestern exakt die gleiche Möblierung, nur dass der Lack bei der einen schwarz, bei der anderen hellbraun war. Für eine glückliche, behütete Kindheit innerhalb einer großen, weitverstreuten Familie war Raya ein wesentlicher Faktor. Wir himmelten sie alle an, doch als wir Warschau verließen, hielt das Schicksal sie zurück; sie ging im Holocaust zugrunde.
    Mutter hatte zwei Brüder. Ihr jüngerer Bruder war ein charmanter Taugenichts. Der ältere war von Litauen nach Schweden gezogen, kam dann aber zurück. Eine schicksalhafte Rückkehr! Wäre er geblieben, hätte er uns vielleicht in seine neue Heimat geholt, und unser Leben wäre völlig anders verlaufen. 1939 gelang es ihm, nach Frankreich zu entkommen, doch er lebte nicht mehr lange. Seine Frau und seine Tochter waren ihm gefolgt und übersiedelten nach seinem Tod in die USA.

Eltern, die Fortsetzung
    Unter den Leuten mit einer tragischen Sicht auf das Leben, die auf harte Arbeit vertrauen und nicht so leicht akzeptieren, dass irgendetwas »unmöglich« sein könnte, waren meine Eltern – einzeln oder gemeinsam und einander wechselseitig bestärkend – absolute Spitzenklasse. Vater war kühn, Mutter war vorsichtig. Sie schrien einander nie an, sondern debattierten ständig über Strategien und brachten mir früh bei, alle Chancen sorgfältig abzuwägen, ehe man große Risiken eingeht.

© Benoît B. Mandelbrot Archives

    Sie stammten aus Familien mit vergleichbarem sozialem Status, wobei die von Vater intellektuell höher stand. Sie lernten sich schon als Kinder kennen, weil Vater ein Klassenkamerad von Mutters älterem Bruder war. Sie blieben verlobt, bis jeder sich in seinem Beruf etabliert hatte. Wenn Vater auf Reisen war, trug seine tägliche Postkarte an Mutter die Anschrift »Szanowna (sehr geehrtes) Fräulein Lurie«. Mutter schaffte es, diese Karten wie einen Schatz über unendlich viele Umzüge zu retten. Einmal aber fanden Bruder Léon und ich den Packen und zerrissen die Karten wegen der seltenen Briefmarken. Mutter schluchzte; ich erinnere mich immer noch an meine tiefe Beschämung.
    Sie heirateten schließlich einige Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Auf Fotos wirkt ihr erster Sohn außerordentlich hübsch, und jeder erinnerte sich daran, wie ungewöhnlich begabt er gewesen war. Er starb während einer Meningitis-Epidemie. Mutter war so verzweifelt, dass Tante Helena das sterbende Kind halten musste. Bis in ihr hohes Alter begann Mutter, wann immer sie an ihn dachte, zu weinen. Zwei nach diesem Verlust geborene Söhne linderten ihren Kummer, doch sie ließen auch ihre Erwartungen wachsen. All das trug zu der Intensität bei, mit der meine Eltern ihre späteren Kinder liebten.
    Mein hochentwickeltes Selbstvertrauen habe ich von zu Hause mitbekommen. Es wurde schon sehr früh gefördert. Beide Eltern bewunderten persönliche Leistung, aber wegen des Kriegs und der Depression erreichten sie nie, was sie wünschten und verdienten. Deshalb wurden Ehrgeiz und sehr hohe Erwartungen stellvertretend auf mich übertragen. Die tatsächlichen Leistungen kamen später. Ich brauchte lange, bis ich das mir von ihnen eingepflanzte Selbstbild umsetzen und ihre Erwartungen möglicherweise erfüllen konnte.
    Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs lebten meine Eltern und ihr erster Sohn in Warschau. Innerhalb ihrer Familien galt Deutschland als Leuchtfeuer der Zivilisation, Russland – mit Ausnahme seiner Musiker und Schriftsteller – hasste und verachtete man, während Frankreich oder England ihrer Ansicht nach zu weit weg waren. Vaters Geschäft war jedoch ruiniert, und so mussten meine Eltern nach Charkow umziehen. Dort lebten sie während des blutigen Bürgerkriegs im Anschluss an die kommunistische Machtübernahme in Russland, bei dem die Herrschaft zwischen den gleichermaßen rücksichtslosen Roten und Weißen wechselte. Nach diesem erneuten Ruin gelang ihnen 1919 eine gefahrvolle Flucht gen

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